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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die schlacht bei Marathon.
angriff auf die in den defilees vorteilhaft postirten Athener nicht wagten.
es ist der unverstand und die misgunst allein, die diesem tage abstrei-
ten, dass das schlichte vertrauen auf gott und die eigene tüchtigkeit
wider alle voraussicht menschlicher kleingläubigkeit den tapfern den
sieg gegeben hat.22) das ist die hauptsache; ob die feinde alle in
schlachtreihe standen, wo die (fabelhafte) reiterei blieb, ob die Athener
im sturmschritt oder im laufschritt vorgiengen23), und wann das signal
"marsch! marsch!" gegeben ward, das sind schliesslich bagatellen. die
Perser fuhren ab, geschlagen, aber natürlich materiell im stande an
einem andern punkte Attikas mit überlegnen streitkräften zu landen.
aber es ist mit dem moralischen eindruck etwas eigentümliches. sie
versprürten nach dieser erfahrung keine lust, wieder gegen Athener zu
fechten, noch 479 war es so. die Athener aber konnten die tragweite
ihres erfolges so bald nicht ermessen. als das lakonische heer, das aus
jener bequemen religiosität, die immer einen starken beigeschmack
von furcht und von bösem willen hat, zu spät eintraf und sich die ge-
fürchteten herren Asiens in pumphosen mit krummen säbeln und silbernen
feldbetten betrachtete, da entschuldigten sich die attischen bürgertruppen
bei den hochedlen Spartiaten, die nach dem glauben der zeit den waffen-
ruhm allein ächt und unverfälscht zu führen berechtigt waren, beinahe
wie klein Roland "ach edler vater, zürnt mir nicht, dass ich erschlug den
groben wicht, dieweil ihr eben schliefet." 479 aber meinten dieselben
Spartaner "kämpft ihr lieber mit den Persern; ihr kennt sie ja." vor
den Persern hatte man verlernt sich zu fürchten, aber vor verrat fürch-
tete man sich vielleicht schon auf dem schlachtfelde24), und schwerlich

22) euriskon kataphugen autois eis autous monous einai kai tous theous sagt
Platon Ges. 699b von den Athenern von 480. zehn jahre früher passt es noch besser.
23) Der fabelhafte lauf sollte niemanden quälen: Artemis hat ihnen die kraft
zu den boedromia gegeben und erhält zum danke das ziegenopfer, vermutlich auch
einen festlichen dromos in waffen. vgl. I 7, anm. 132.
24) Die famose geschichte, dass ein schild von verrätern aufgesteckt wäre,
um die abfahrenden Perser nach der wehrlosen stadt zu locken (Herod. VI 115, 127),
richtet sich selbst. welche verabredung sollte denn vorhergegangen sein, welche
voraussetzungen gemacht, dass die schilderhebung den Persern verständlich geworden
wäre? und wohin ist der verräter geklettert? etwa auf den Brilettos? die Perser
fuhren nach süden ab, die stadt war wehrlos: da war der rückmarsch für die sieger
ein gebot der klugheit und der not. es war ein hartes gebot, und es ist ein schönes
zeichen für die disciplin, dass es erfüllt ward. wenn sich dann die sorge um die
heimat und der unwillen über den gewaltmarsch (einerlei, wie lange er dauerte) und
die wut wider die verräter, deren treiben sie fürchteten, zu dem glauben verdichtet
hat, den Persern hätte ein abscheulicher mensch die fahrt eingegeben, und der oder

Die schlacht bei Marathon.
angriff auf die in den defilées vorteilhaft postirten Athener nicht wagten.
es ist der unverstand und die misgunst allein, die diesem tage abstrei-
ten, daſs das schlichte vertrauen auf gott und die eigene tüchtigkeit
wider alle voraussicht menschlicher kleingläubigkeit den tapfern den
sieg gegeben hat.22) das ist die hauptsache; ob die feinde alle in
schlachtreihe standen, wo die (fabelhafte) reiterei blieb, ob die Athener
im sturmschritt oder im laufschritt vorgiengen23), und wann das signal
“marsch! marsch!” gegeben ward, das sind schlieſslich bagatellen. die
Perser fuhren ab, geschlagen, aber natürlich materiell im stande an
einem andern punkte Attikas mit überlegnen streitkräften zu landen.
aber es ist mit dem moralischen eindruck etwas eigentümliches. sie
versprürten nach dieser erfahrung keine lust, wieder gegen Athener zu
fechten, noch 479 war es so. die Athener aber konnten die tragweite
ihres erfolges so bald nicht ermessen. als das lakonische heer, das aus
jener bequemen religiosität, die immer einen starken beigeschmack
von furcht und von bösem willen hat, zu spät eintraf und sich die ge-
fürchteten herren Asiens in pumphosen mit krummen säbeln und silbernen
feldbetten betrachtete, da entschuldigten sich die attischen bürgertruppen
bei den hochedlen Spartiaten, die nach dem glauben der zeit den waffen-
ruhm allein ächt und unverfälscht zu führen berechtigt waren, beinahe
wie klein Roland “ach edler vater, zürnt mir nicht, daſs ich erschlug den
groben wicht, dieweil ihr eben schliefet.” 479 aber meinten dieselben
Spartaner “kämpft ihr lieber mit den Persern; ihr kennt sie ja.” vor
den Persern hatte man verlernt sich zu fürchten, aber vor verrat fürch-
tete man sich vielleicht schon auf dem schlachtfelde24), und schwerlich

22) ηὕϱισκον καταφυγὴν αὑτοῖς εἰς αὑτοὺς μόνους εἶναι καὶ τοὺς ϑεούς sagt
Platon Ges. 699b von den Athenern von 480. zehn jahre früher paſst es noch besser.
23) Der fabelhafte lauf sollte niemanden quälen: Artemis hat ihnen die kraft
zu den βοηδϱόμια gegeben und erhält zum danke das ziegenopfer, vermutlich auch
einen festlichen δϱόμος in waffen. vgl. I 7, anm. 132.
24) Die famose geschichte, daſs ein schild von verrätern aufgesteckt wäre,
um die abfahrenden Perser nach der wehrlosen stadt zu locken (Herod. VI 115, 127),
richtet sich selbst. welche verabredung sollte denn vorhergegangen sein, welche
voraussetzungen gemacht, daſs die schilderhebung den Persern verständlich geworden
wäre? und wohin ist der verräter geklettert? etwa auf den Brilettos? die Perser
fuhren nach süden ab, die stadt war wehrlos: da war der rückmarsch für die sieger
ein gebot der klugheit und der not. es war ein hartes gebot, und es ist ein schönes
zeichen für die disciplin, daſs es erfüllt ward. wenn sich dann die sorge um die
heimat und der unwillen über den gewaltmarsch (einerlei, wie lange er dauerte) und
die wut wider die verräter, deren treiben sie fürchteten, zu dem glauben verdichtet
hat, den Persern hätte ein abscheulicher mensch die fahrt eingegeben, und der oder
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[85/0095] Die schlacht bei Marathon. angriff auf die in den defilées vorteilhaft postirten Athener nicht wagten. es ist der unverstand und die misgunst allein, die diesem tage abstrei- ten, daſs das schlichte vertrauen auf gott und die eigene tüchtigkeit wider alle voraussicht menschlicher kleingläubigkeit den tapfern den sieg gegeben hat. 22) das ist die hauptsache; ob die feinde alle in schlachtreihe standen, wo die (fabelhafte) reiterei blieb, ob die Athener im sturmschritt oder im laufschritt vorgiengen 23), und wann das signal “marsch! marsch!” gegeben ward, das sind schlieſslich bagatellen. die Perser fuhren ab, geschlagen, aber natürlich materiell im stande an einem andern punkte Attikas mit überlegnen streitkräften zu landen. aber es ist mit dem moralischen eindruck etwas eigentümliches. sie versprürten nach dieser erfahrung keine lust, wieder gegen Athener zu fechten, noch 479 war es so. die Athener aber konnten die tragweite ihres erfolges so bald nicht ermessen. als das lakonische heer, das aus jener bequemen religiosität, die immer einen starken beigeschmack von furcht und von bösem willen hat, zu spät eintraf und sich die ge- fürchteten herren Asiens in pumphosen mit krummen säbeln und silbernen feldbetten betrachtete, da entschuldigten sich die attischen bürgertruppen bei den hochedlen Spartiaten, die nach dem glauben der zeit den waffen- ruhm allein ächt und unverfälscht zu führen berechtigt waren, beinahe wie klein Roland “ach edler vater, zürnt mir nicht, daſs ich erschlug den groben wicht, dieweil ihr eben schliefet.” 479 aber meinten dieselben Spartaner “kämpft ihr lieber mit den Persern; ihr kennt sie ja.” vor den Persern hatte man verlernt sich zu fürchten, aber vor verrat fürch- tete man sich vielleicht schon auf dem schlachtfelde 24), und schwerlich 22) ηὕϱισκον καταφυγὴν αὑτοῖς εἰς αὑτοὺς μόνους εἶναι καὶ τοὺς ϑεούς sagt Platon Ges. 699b von den Athenern von 480. zehn jahre früher paſst es noch besser. 23) Der fabelhafte lauf sollte niemanden quälen: Artemis hat ihnen die kraft zu den βοηδϱόμια gegeben und erhält zum danke das ziegenopfer, vermutlich auch einen festlichen δϱόμος in waffen. vgl. I 7, anm. 132. 24) Die famose geschichte, daſs ein schild von verrätern aufgesteckt wäre, um die abfahrenden Perser nach der wehrlosen stadt zu locken (Herod. VI 115, 127), richtet sich selbst. welche verabredung sollte denn vorhergegangen sein, welche voraussetzungen gemacht, daſs die schilderhebung den Persern verständlich geworden wäre? und wohin ist der verräter geklettert? etwa auf den Brilettos? die Perser fuhren nach süden ab, die stadt war wehrlos: da war der rückmarsch für die sieger ein gebot der klugheit und der not. es war ein hartes gebot, und es ist ein schönes zeichen für die disciplin, daſs es erfüllt ward. wenn sich dann die sorge um die heimat und der unwillen über den gewaltmarsch (einerlei, wie lange er dauerte) und die wut wider die verräter, deren treiben sie fürchteten, zu dem glauben verdichtet hat, den Persern hätte ein abscheulicher mensch die fahrt eingegeben, und der oder

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/95>, abgerufen am 23.04.2024.