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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 2. Von Kekrops bis Solon.

Solons augenmerk war offenbar zunächst nur auf die schulden-
tilgung gerichtet gewesen, und im übrigen auf die beseitigung der dra-
kontischen schranken, die durch die forderung der selbstequipirung
die proletarier principiell ausschlossen. das schien ihm ein widerspruch
mit der herrschaft des demos, und er spricht es selbst aus, dass er diesem
seine rechte weder geschmälert noch vermehrt hätte: er hielt Drakons
ordnung also für eine ungerechte neuerung. wirklich können wir wol
nicht anders urteilen, als dass Solon in der verfassung ausser diesem
demokratischen prinzipe kaum etwas bedeutendes erfunden hat, da ja die
ausdehnung des loses auf die archonten kein neues princip war, und
dessen bedeutung kann man nicht umhin, gerade für die wichtigsten
ämter gering anzuschlagen. Solon selbst und sein nachfolger Dropides
sind trotz dem lose so gut wie gewählt: es hat sich die macht des
volkswillens so stark fühlbar gemacht, dass andere candidaten gar nicht
zur losung präsentirt wurden. wenn in den folgenden jahren so häufig
gar keine archonten vorhanden sind, so muss die losung aus der vor-
schlagsliste durch den terrorismus der parteien verhindert sein, oder
aber es hat sich die majorität der tyrannei des zufalls nicht unter-
worfen. wir haben schlechthin keine mittel uns vorzustellen, wie es in
Athen in solchen jahren der anarchie aussah38); aber die kritik muss
sich Solon schon gefallen lassen, dass er zwar das princip der demo-
kratie zum siege geführt hat, aber gerade dadurch, dass er die macht
der beamten möglichst vinculirte, zunächst seinem vaterlande den
kräftigen arm gelähmt hat, der es allein vor der tyrannis schützen
konnte, die der vertrauensmann des volkes, der in directer wahl von
allen erhobene stratege, und der peithon ton straton, der demagoge
der zum ganzen volke sprechen konnte, errungen hat.

Das denkwürdige amtsjahr lief ab. Solon stellte das geltende at-
tische recht auf vielen riesigen holztafeln verzeichnet aus, liess es vom
demos nicht nur annehmen, sondern in feierlicher weise beschwören,
brachte am jahresschlusse das opfer an Zeus den erretter (die letzte
regelmässige amtshandlung des beamten39) und trat in das privatleben
zurück oder vielmehr in den Areopag hinüber. seine Athener werden

38) Selbst das ist nicht bekannt, ob in jahren der anarchie gar keine beamte
waren, oder etwa nur kein archon, oder ungesetzliche und cassirte archonten. der
fall, dass ein archon fehlte und der könig für ihn eintrat, ist später vorgekommen.
39) Der cult des Zeus gehört zum markte als 'goraios, dem wesen des markt-
rechtes entsprechend. aber auch als soter darf er für alt gelten; nur eleutherios
heisst er erst seit 480.
II. 2. Von Kekrops bis Solon.

Solons augenmerk war offenbar zunächst nur auf die schulden-
tilgung gerichtet gewesen, und im übrigen auf die beseitigung der dra-
kontischen schranken, die durch die forderung der selbstequipirung
die proletarier principiell ausschlossen. das schien ihm ein widerspruch
mit der herrschaft des demos, und er spricht es selbst aus, daſs er diesem
seine rechte weder geschmälert noch vermehrt hätte: er hielt Drakons
ordnung also für eine ungerechte neuerung. wirklich können wir wol
nicht anders urteilen, als daſs Solon in der verfassung auſser diesem
demokratischen prinzipe kaum etwas bedeutendes erfunden hat, da ja die
ausdehnung des loses auf die archonten kein neues princip war, und
dessen bedeutung kann man nicht umhin, gerade für die wichtigsten
ämter gering anzuschlagen. Solon selbst und sein nachfolger Dropides
sind trotz dem lose so gut wie gewählt: es hat sich die macht des
volkswillens so stark fühlbar gemacht, daſs andere candidaten gar nicht
zur losung präsentirt wurden. wenn in den folgenden jahren so häufig
gar keine archonten vorhanden sind, so muſs die losung aus der vor-
schlagsliste durch den terrorismus der parteien verhindert sein, oder
aber es hat sich die majorität der tyrannei des zufalls nicht unter-
worfen. wir haben schlechthin keine mittel uns vorzustellen, wie es in
Athen in solchen jahren der anarchie aussah38); aber die kritik muſs
sich Solon schon gefallen lassen, daſs er zwar das princip der demo-
kratie zum siege geführt hat, aber gerade dadurch, daſs er die macht
der beamten möglichst vinculirte, zunächst seinem vaterlande den
kräftigen arm gelähmt hat, der es allein vor der tyrannis schützen
konnte, die der vertrauensmann des volkes, der in directer wahl von
allen erhobene stratege, und der πείϑων τὸν στϱατόν, der demagoge
der zum ganzen volke sprechen konnte, errungen hat.

Das denkwürdige amtsjahr lief ab. Solon stellte das geltende at-
tische recht auf vielen riesigen holztafeln verzeichnet aus, lieſs es vom
demos nicht nur annehmen, sondern in feierlicher weise beschwören,
brachte am jahresschlusse das opfer an Zeus den erretter (die letzte
regelmäſsige amtshandlung des beamten39) und trat in das privatleben
zurück oder vielmehr in den Areopag hinüber. seine Athener werden

38) Selbst das ist nicht bekannt, ob in jahren der anarchie gar keine beamte
waren, oder etwa nur kein archon, oder ungesetzliche und cassirte archonten. der
fall, daſs ein archon fehlte und der könig für ihn eintrat, ist später vorgekommen.
39) Der cult des Zeus gehört zum markte als ᾽γοϱαῖος, dem wesen des markt-
rechtes entsprechend. aber auch als σωτήϱ darf er für alt gelten; nur ἐλευϑέϱιος
heiſst er erst seit 480.
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[64/0074] II. 2. Von Kekrops bis Solon. Solons augenmerk war offenbar zunächst nur auf die schulden- tilgung gerichtet gewesen, und im übrigen auf die beseitigung der dra- kontischen schranken, die durch die forderung der selbstequipirung die proletarier principiell ausschlossen. das schien ihm ein widerspruch mit der herrschaft des demos, und er spricht es selbst aus, daſs er diesem seine rechte weder geschmälert noch vermehrt hätte: er hielt Drakons ordnung also für eine ungerechte neuerung. wirklich können wir wol nicht anders urteilen, als daſs Solon in der verfassung auſser diesem demokratischen prinzipe kaum etwas bedeutendes erfunden hat, da ja die ausdehnung des loses auf die archonten kein neues princip war, und dessen bedeutung kann man nicht umhin, gerade für die wichtigsten ämter gering anzuschlagen. Solon selbst und sein nachfolger Dropides sind trotz dem lose so gut wie gewählt: es hat sich die macht des volkswillens so stark fühlbar gemacht, daſs andere candidaten gar nicht zur losung präsentirt wurden. wenn in den folgenden jahren so häufig gar keine archonten vorhanden sind, so muſs die losung aus der vor- schlagsliste durch den terrorismus der parteien verhindert sein, oder aber es hat sich die majorität der tyrannei des zufalls nicht unter- worfen. wir haben schlechthin keine mittel uns vorzustellen, wie es in Athen in solchen jahren der anarchie aussah 38); aber die kritik muſs sich Solon schon gefallen lassen, daſs er zwar das princip der demo- kratie zum siege geführt hat, aber gerade dadurch, daſs er die macht der beamten möglichst vinculirte, zunächst seinem vaterlande den kräftigen arm gelähmt hat, der es allein vor der tyrannis schützen konnte, die der vertrauensmann des volkes, der in directer wahl von allen erhobene stratege, und der πείϑων τὸν στϱατόν, der demagoge der zum ganzen volke sprechen konnte, errungen hat. Das denkwürdige amtsjahr lief ab. Solon stellte das geltende at- tische recht auf vielen riesigen holztafeln verzeichnet aus, lieſs es vom demos nicht nur annehmen, sondern in feierlicher weise beschwören, brachte am jahresschlusse das opfer an Zeus den erretter (die letzte regelmäſsige amtshandlung des beamten 39) und trat in das privatleben zurück oder vielmehr in den Areopag hinüber. seine Athener werden 38) Selbst das ist nicht bekannt, ob in jahren der anarchie gar keine beamte waren, oder etwa nur kein archon, oder ungesetzliche und cassirte archonten. der fall, daſs ein archon fehlte und der könig für ihn eintrat, ist später vorgekommen. 39) Der cult des Zeus gehört zum markte als ᾽γοϱαῖος, dem wesen des markt- rechtes entsprechend. aber auch als σωτήϱ darf er für alt gelten; nur ἐλευϑέϱιος heiſst er erst seit 480.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/74>, abgerufen am 28.03.2024.