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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Solon.
weltenregiments ist ihm vollkommen unerschüttert. "gott hält sein auge
über dem ausgange aller dinge; er ist nicht rasch mit seinem zorne,
aber seine strafe suchet den schuldigen heim, sei es auch erst in seinen
kindern oder kindeskindern." so denkt er, wie hundert jahre später
Aischylos, und dieses denken gibt ihm die kraft und den mut zu seinem
grossen werke. der rechte nachfolger Homers und der rechte Athener
ist er vollends in dem was ihn von dem Ionier Archilochos scheidet,
dem unvergleichlich grösseren aber an dem persönlichsten irdischen
klebenden dichter: der sinn für die durcharbeitung der zufälligen
wirklichkeit zur typischen wahrheit. wer in das Akropolismuseum tritt,
der sieht in der gewaltigen bunten gruppe des stieres das schönste
werk altathenischer plastik und ruft "das ist das verkörperte home-
rische gleichnis." da kündet sich die kunst an, die im Parthenonfriese
das attische volk, das ideal ihrer zeit, zu der für alle zeit typischen
darstellung eines sich seiner gottheit am festlichen tage nahenden volkes
vergeistigen konnte. als V. Hehn die darstellung der naturformen des
menschenlebens bei Goethe veranschaulichen will, greift er nach ihrer
schilderung in Solons grosser elegie.33)

So war der dichter und der weise, der seinen Athenern zu predi-
gen wagte: "haltet inne, kehret um auf eurem wege, sonst stürzt ihr
wider gottes willen euer vaterland in den abgrund." was er geisselte
war die begehrlichkeit, sowol der von unten drängenden masse wie die
der auf ihren besitz pochenden standesgenossen. diesen, die mit dem
gute des staates und der götter unredlich umgehn, die macht zu der
vergewaltigung der rechtlosen misbrauchen, gilt sein zorn überwiegend.
gerechtigkeit in der verteilung des besitzes, menschlichkeit und gleichheit
fordert er, frieden, eintracht und gesetzlichkeit (eunomie, worin sowol
die befolgung der gesetze, wie die herrschaft guter gesetze liegt) verheisst er.
von bestimmten praktischen vorschlägen hören wir nichts; das gehört
nicht in die poesie. aber der so redete, war kein demiourgos der dicht-
kunst, sondern ein angesehener und lebenserfahrener angehöriger des

33) Gedanken über Goethe 213. Hehn vergreift sich aber, wenn er Solon
einen vielerfahrenen und darum düsteren menschenkenner nennt. die erfahrung, dass
des menschen kraft und kunst kein sicheres glück zimmern kann, sondern gott allein
das gedeihen gibt, hat seinen sinn nicht verdüstert, denn gott gibt das gedeihen,
wenn der mensch gerecht bleibt. Solon genoss das leben gern, aber der schönste
lebensgenuss war ihm das lernen, und darum bat er den Mimnermos, der nur den
sinnengenuss kannte und mit 60 jahren sterben wollte, flugs 80 zu schreiben. der
verachtete wahrlich die menschen nicht, der betrauert sterben wollte. er hat selbst
die politische enttäuschung durch seine poesie und sein reines gewissen überwunden.

Solon.
weltenregiments ist ihm vollkommen unerschüttert. “gott hält sein auge
über dem ausgange aller dinge; er ist nicht rasch mit seinem zorne,
aber seine strafe suchet den schuldigen heim, sei es auch erst in seinen
kindern oder kindeskindern.” so denkt er, wie hundert jahre später
Aischylos, und dieses denken gibt ihm die kraft und den mut zu seinem
groſsen werke. der rechte nachfolger Homers und der rechte Athener
ist er vollends in dem was ihn von dem Ionier Archilochos scheidet,
dem unvergleichlich gröſseren aber an dem persönlichsten irdischen
klebenden dichter: der sinn für die durcharbeitung der zufälligen
wirklichkeit zur typischen wahrheit. wer in das Akropolismuseum tritt,
der sieht in der gewaltigen bunten gruppe des stieres das schönste
werk altathenischer plastik und ruft “das ist das verkörperte home-
rische gleichnis.” da kündet sich die kunst an, die im Parthenonfriese
das attische volk, das ideal ihrer zeit, zu der für alle zeit typischen
darstellung eines sich seiner gottheit am festlichen tage nahenden volkes
vergeistigen konnte. als V. Hehn die darstellung der naturformen des
menschenlebens bei Goethe veranschaulichen will, greift er nach ihrer
schilderung in Solons grosser elegie.33)

So war der dichter und der weise, der seinen Athenern zu predi-
gen wagte: “haltet inne, kehret um auf eurem wege, sonst stürzt ihr
wider gottes willen euer vaterland in den abgrund.” was er geiſselte
war die begehrlichkeit, sowol der von unten drängenden masse wie die
der auf ihren besitz pochenden standesgenossen. diesen, die mit dem
gute des staates und der götter unredlich umgehn, die macht zu der
vergewaltigung der rechtlosen misbrauchen, gilt sein zorn überwiegend.
gerechtigkeit in der verteilung des besitzes, menschlichkeit und gleichheit
fordert er, frieden, eintracht und gesetzlichkeit (εὐνομίη, worin sowol
die befolgung der gesetze, wie die herrschaft guter gesetze liegt) verheiſst er.
von bestimmten praktischen vorschlägen hören wir nichts; das gehört
nicht in die poesie. aber der so redete, war kein δημιουϱγός der dicht-
kunst, sondern ein angesehener und lebenserfahrener angehöriger des

33) Gedanken über Goethe 213. Hehn vergreift sich aber, wenn er Solon
einen vielerfahrenen und darum düsteren menschenkenner nennt. die erfahrung, daſs
des menschen kraft und kunst kein sicheres glück zimmern kann, sondern gott allein
das gedeihen gibt, hat seinen sinn nicht verdüstert, denn gott gibt das gedeihen,
wenn der mensch gerecht bleibt. Solon genoſs das leben gern, aber der schönste
lebensgenuſs war ihm das lernen, und darum bat er den Mimnermos, der nur den
sinnengenuſs kannte und mit 60 jahren sterben wollte, flugs 80 zu schreiben. der
verachtete wahrlich die menschen nicht, der betrauert sterben wollte. er hat selbst
die politische enttäuschung durch seine poesie und sein reines gewissen überwunden.
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[61/0071] Solon. weltenregiments ist ihm vollkommen unerschüttert. “gott hält sein auge über dem ausgange aller dinge; er ist nicht rasch mit seinem zorne, aber seine strafe suchet den schuldigen heim, sei es auch erst in seinen kindern oder kindeskindern.” so denkt er, wie hundert jahre später Aischylos, und dieses denken gibt ihm die kraft und den mut zu seinem groſsen werke. der rechte nachfolger Homers und der rechte Athener ist er vollends in dem was ihn von dem Ionier Archilochos scheidet, dem unvergleichlich gröſseren aber an dem persönlichsten irdischen klebenden dichter: der sinn für die durcharbeitung der zufälligen wirklichkeit zur typischen wahrheit. wer in das Akropolismuseum tritt, der sieht in der gewaltigen bunten gruppe des stieres das schönste werk altathenischer plastik und ruft “das ist das verkörperte home- rische gleichnis.” da kündet sich die kunst an, die im Parthenonfriese das attische volk, das ideal ihrer zeit, zu der für alle zeit typischen darstellung eines sich seiner gottheit am festlichen tage nahenden volkes vergeistigen konnte. als V. Hehn die darstellung der naturformen des menschenlebens bei Goethe veranschaulichen will, greift er nach ihrer schilderung in Solons grosser elegie. 33) So war der dichter und der weise, der seinen Athenern zu predi- gen wagte: “haltet inne, kehret um auf eurem wege, sonst stürzt ihr wider gottes willen euer vaterland in den abgrund.” was er geiſselte war die begehrlichkeit, sowol der von unten drängenden masse wie die der auf ihren besitz pochenden standesgenossen. diesen, die mit dem gute des staates und der götter unredlich umgehn, die macht zu der vergewaltigung der rechtlosen misbrauchen, gilt sein zorn überwiegend. gerechtigkeit in der verteilung des besitzes, menschlichkeit und gleichheit fordert er, frieden, eintracht und gesetzlichkeit (εὐνομίη, worin sowol die befolgung der gesetze, wie die herrschaft guter gesetze liegt) verheiſst er. von bestimmten praktischen vorschlägen hören wir nichts; das gehört nicht in die poesie. aber der so redete, war kein δημιουϱγός der dicht- kunst, sondern ein angesehener und lebenserfahrener angehöriger des 33) Gedanken über Goethe 213. Hehn vergreift sich aber, wenn er Solon einen vielerfahrenen und darum düsteren menschenkenner nennt. die erfahrung, daſs des menschen kraft und kunst kein sicheres glück zimmern kann, sondern gott allein das gedeihen gibt, hat seinen sinn nicht verdüstert, denn gott gibt das gedeihen, wenn der mensch gerecht bleibt. Solon genoſs das leben gern, aber der schönste lebensgenuſs war ihm das lernen, und darum bat er den Mimnermos, der nur den sinnengenuſs kannte und mit 60 jahren sterben wollte, flugs 80 zu schreiben. der verachtete wahrlich die menschen nicht, der betrauert sterben wollte. er hat selbst die politische enttäuschung durch seine poesie und sein reines gewissen überwunden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/71>, abgerufen am 20.04.2024.