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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die naukrarien. Drakon.
wenn Drakon den rat in der weise zu bilden versucht, dass jeder be-
rechtigte in bestimmtem turnus hineinkommen muss, und die active be-
teiligung aller durch schwere ordnungsstrafen erzwungen wird, so hat er
die aufstrebende demagogie der einzelnen wol eher schon erfahren als
vorausgesehen.

Die tyrannis war die Skylla, der der staat unentrinnbar zutrieb,Versuche
der ty-
rannis.

wenn er nicht von der demokratischen Charybdis verschlungen werden
sollte. aller voraussicht nach konnte Athen dem geschicke von Sikyon
Korinth und Megara nicht entgehn. die grossen geschlechter innerhalb
des adels hatten das prestige des grossen grundbesitzers, auch wol
das früherer selbständiger herrschaft, und die moderne gesellschafts-
ordnung sicherte und mehrte ihre macht, als die wirtschaft capitalistisch
ward. in der chronik steht, dass schon vor der mitte des achten jahr-
hunderts ein Alkmeon zwei jahre archon war, der dann verschwindet,
während gleichzeitig das amt zehnjährig ward. darin mag die erinne-
rung an einen tyrannischen versuch bewahrt sein. ein Alkmeonide
Megakles war archon, als Kylon, ein junger schöner mann, der 640 in
Olympia im dauerlaufe gesiegt hatte, sich durch einen gewaltstreich der
burg bemächtigte. es gelang dem archon den aufstand niederzuschlagen.
er scheute sich nicht die führer umbringen zu lassen, obwol sie sich
gegen zusicherung des lebens ergeben hatten, und er hatte die macht,
so lange er lebte, die rechenschaft für diesen gottesfrevel zu hinter-
treiben. schliesslich erzwang die gemeinde doch eine abrechnung; aber
sie geschah bereits durch ein grosses ausnahmegericht von 300 standes-
genossen: der rat auf dem Areshügel hat sich um die blutschuld nicht
gekümmert. nun ward das ganze geschlecht der Alkmeoniden verjagt
und bildete im auslande eine gefahr für die herrschende partei. ledig-
lich weil die bedeutung der Alkmeoniden und ihre anfeindung als 'ver-
fluchte' noch bis in das fünfte jahrhundert dauerte, sind diese ereignisse
im gedächtnisse geblieben, so dass Kylons attentat das einzige scheint.
wir können aber unmöglich bezweifeln, dass das siebente jahrhundert
viele der art gesehn hat, da im sechsten trotz der solonischen verfassung
die macht und begehrlichkeit der grossen geschlechter um nichts ge-
mindert erscheint, Damasias kurze zeit, Peisistratos dauernd die tyrannis
erreicht, und die kämpfe, die Athen befreien, noch sehr stark den
charakter des ringens der geschlechter um die herrschaft tragen. erst
nach Marathon hat sich das volk wirklich von ihnen frei gemacht.

Ein versuch aus den kreisen der regierung, durch eine reform desDrakon.
staates sich vor diesen gefahren zu retten, ist die gesetzgebung Drakons,

Die naukrarien. Drakon.
wenn Drakon den rat in der weise zu bilden versucht, daſs jeder be-
rechtigte in bestimmtem turnus hineinkommen muſs, und die active be-
teiligung aller durch schwere ordnungsstrafen erzwungen wird, so hat er
die aufstrebende demagogie der einzelnen wol eher schon erfahren als
vorausgesehen.

Die tyrannis war die Skylla, der der staat unentrinnbar zutrieb,Versuche
der ty-
rannis.

wenn er nicht von der demokratischen Charybdis verschlungen werden
sollte. aller voraussicht nach konnte Athen dem geschicke von Sikyon
Korinth und Megara nicht entgehn. die groſsen geschlechter innerhalb
des adels hatten das prestige des groſsen grundbesitzers, auch wol
das früherer selbständiger herrschaft, und die moderne gesellschafts-
ordnung sicherte und mehrte ihre macht, als die wirtschaft capitalistisch
ward. in der chronik steht, daſs schon vor der mitte des achten jahr-
hunderts ein Alkmeon zwei jahre archon war, der dann verschwindet,
während gleichzeitig das amt zehnjährig ward. darin mag die erinne-
rung an einen tyrannischen versuch bewahrt sein. ein Alkmeonide
Megakles war archon, als Kylon, ein junger schöner mann, der 640 in
Olympia im dauerlaufe gesiegt hatte, sich durch einen gewaltstreich der
burg bemächtigte. es gelang dem archon den aufstand niederzuschlagen.
er scheute sich nicht die führer umbringen zu lassen, obwol sie sich
gegen zusicherung des lebens ergeben hatten, und er hatte die macht,
so lange er lebte, die rechenschaft für diesen gottesfrevel zu hinter-
treiben. schlieſslich erzwang die gemeinde doch eine abrechnung; aber
sie geschah bereits durch ein groſses ausnahmegericht von 300 standes-
genossen: der rat auf dem Areshügel hat sich um die blutschuld nicht
gekümmert. nun ward das ganze geschlecht der Alkmeoniden verjagt
und bildete im auslande eine gefahr für die herrschende partei. ledig-
lich weil die bedeutung der Alkmeoniden und ihre anfeindung als ‘ver-
fluchte’ noch bis in das fünfte jahrhundert dauerte, sind diese ereignisse
im gedächtnisse geblieben, so daſs Kylons attentat das einzige scheint.
wir können aber unmöglich bezweifeln, daſs das siebente jahrhundert
viele der art gesehn hat, da im sechsten trotz der solonischen verfassung
die macht und begehrlichkeit der groſsen geschlechter um nichts ge-
mindert erscheint, Damasias kurze zeit, Peisistratos dauernd die tyrannis
erreicht, und die kämpfe, die Athen befreien, noch sehr stark den
charakter des ringens der geschlechter um die herrschaft tragen. erst
nach Marathon hat sich das volk wirklich von ihnen frei gemacht.

Ein versuch aus den kreisen der regierung, durch eine reform desDrakon.
staates sich vor diesen gefahren zu retten, ist die gesetzgebung Drakons,

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[55/0065] Die naukrarien. Drakon. wenn Drakon den rat in der weise zu bilden versucht, daſs jeder be- rechtigte in bestimmtem turnus hineinkommen muſs, und die active be- teiligung aller durch schwere ordnungsstrafen erzwungen wird, so hat er die aufstrebende demagogie der einzelnen wol eher schon erfahren als vorausgesehen. Die tyrannis war die Skylla, der der staat unentrinnbar zutrieb, wenn er nicht von der demokratischen Charybdis verschlungen werden sollte. aller voraussicht nach konnte Athen dem geschicke von Sikyon Korinth und Megara nicht entgehn. die groſsen geschlechter innerhalb des adels hatten das prestige des groſsen grundbesitzers, auch wol das früherer selbständiger herrschaft, und die moderne gesellschafts- ordnung sicherte und mehrte ihre macht, als die wirtschaft capitalistisch ward. in der chronik steht, daſs schon vor der mitte des achten jahr- hunderts ein Alkmeon zwei jahre archon war, der dann verschwindet, während gleichzeitig das amt zehnjährig ward. darin mag die erinne- rung an einen tyrannischen versuch bewahrt sein. ein Alkmeonide Megakles war archon, als Kylon, ein junger schöner mann, der 640 in Olympia im dauerlaufe gesiegt hatte, sich durch einen gewaltstreich der burg bemächtigte. es gelang dem archon den aufstand niederzuschlagen. er scheute sich nicht die führer umbringen zu lassen, obwol sie sich gegen zusicherung des lebens ergeben hatten, und er hatte die macht, so lange er lebte, die rechenschaft für diesen gottesfrevel zu hinter- treiben. schlieſslich erzwang die gemeinde doch eine abrechnung; aber sie geschah bereits durch ein groſses ausnahmegericht von 300 standes- genossen: der rat auf dem Areshügel hat sich um die blutschuld nicht gekümmert. nun ward das ganze geschlecht der Alkmeoniden verjagt und bildete im auslande eine gefahr für die herrschende partei. ledig- lich weil die bedeutung der Alkmeoniden und ihre anfeindung als ‘ver- fluchte’ noch bis in das fünfte jahrhundert dauerte, sind diese ereignisse im gedächtnisse geblieben, so daſs Kylons attentat das einzige scheint. wir können aber unmöglich bezweifeln, daſs das siebente jahrhundert viele der art gesehn hat, da im sechsten trotz der solonischen verfassung die macht und begehrlichkeit der groſsen geschlechter um nichts ge- mindert erscheint, Damasias kurze zeit, Peisistratos dauernd die tyrannis erreicht, und die kämpfe, die Athen befreien, noch sehr stark den charakter des ringens der geschlechter um die herrschaft tragen. erst nach Marathon hat sich das volk wirklich von ihnen frei gemacht. Versuche der ty- rannis. Ein versuch aus den kreisen der regierung, durch eine reform des staates sich vor diesen gefahren zu retten, ist die gesetzgebung Drakons, Drakon.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/65>, abgerufen am 24.04.2024.