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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Der herrschende stand. der rat.
wol den müssiggang nicht bloss, weil er den kleros verfallen liess, ge-
ahndet, sondern auch weil er den stand entehrte, ganz wie ehebruch
und vergewaltigung in jeder form. mag auch erst die tyrannis und die
demokratie die staatlichen turnplätze, badstuben, chöre u. a. eingerichtet
haben: ein analogon zu der jugenderziehung der Spartiaten hat schwer-
lich in Altathen gefehlt, wie denn trotz der stammesverschiedenheit der
adelsstaat bei beiden völkern ähnliches hervorbringen musste.

Jederzeit und erst recht, wenn er seine vorrechte bedroht sieht,Der rat.
wird ein stand sich nicht gern durch einzelbeamte vertreten lassen,
deren persönliche vorzüge er fürchten muss. ein collegium, womöglich
eine vertretung der geschlechter, ist die aristokratische form der magi-
stratur. die geronten stehn neben Agamemnon, die gerusia neben den
königen Spartas. so hatte auch der athenische adel dem könige, schon
als dieser noch ein wirklicher könig war, den rat zur seite gestellt,
der von dem amtshause auf dem Areshügel, wo er über mord zu ge-
richte sass, später benannt wird. dieser rat war der wahre herr Athens
gewesen, da seine mitglieder lebenslänglich blieben, sein recht der coer-
cition und multirung sich über bürger und beamte erstreckte, er die
niedern beamten selbst anstellte und controllirte und die finanzen ganz
in seiner hand hatte. aber die macht dieses rates ist zwar nicht ge-
setzlich, aber factisch im siebenten jahrhundert bereits so geschwächt,
dass er bei keiner gelegenheit eine rolle in unserer überlieferung spielt;
das Kylonische attentat, die gesetzgebungen Drakons und Solons, die
tyrannis des Peisistratos nimmt er scheinbar teilnahmlos hin. schon
die einsetzung der thesmotheten, die der epheten, und noch mehr die
schriftliche fixirung des geltenden rechtes durch Drakon und Solon
musste die lediglich auf dem herkommen beruhende gewalt des rates
beeinträchtigen, und man wird nicht bezweifeln, dass die neuerungen
auch diesem zwecke gedient haben. nichts desto weniger lehrt die ver-
fassung selbst, dass der rat eine bedeutende rolle in der laufenden ver-
waltung gespielt hat: denn die sphaeren der 9 beamten sind fest um-
26)

26) zu klagen, und es gibt dafür eine mündliche instruction. recht spricht die politische
behörde: der name damiorgoi gilt in Argos, Achaia und häufig. hier wird nun für
die politische behörde im notfalle eine religiöse deputation substituirt, die zu dem
heros von Mykene gebt. ersichtlich ist die inschrift gesetzt, als Mykene rechtlich
nicht mehr existirte, die alten bürger argivische pedawoikoi geworden waren, aber
ihre familienrechte weiter pflegten. der örtliche cult war mit dem orte zerstört:
es giengen nur noch iaromnamones zum Perseus, und diese durften die alten eire-
mena zu gunsten der klagenden eltern anwenden. man gedenkt auch dessen, dass
die attischen Eupatridai an Orestes den Mykenaeer angeknüpft wurden, den eupator.
v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 4

Der herrschende stand. der rat.
wol den müſsiggang nicht bloſs, weil er den κλῆϱος verfallen lieſs, ge-
ahndet, sondern auch weil er den stand entehrte, ganz wie ehebruch
und vergewaltigung in jeder form. mag auch erst die tyrannis und die
demokratie die staatlichen turnplätze, badstuben, chöre u. a. eingerichtet
haben: ein analogon zu der jugenderziehung der Spartiaten hat schwer-
lich in Altathen gefehlt, wie denn trotz der stammesverschiedenheit der
adelsstaat bei beiden völkern ähnliches hervorbringen muſste.

Jederzeit und erst recht, wenn er seine vorrechte bedroht sieht,Der rat.
wird ein stand sich nicht gern durch einzelbeamte vertreten lassen,
deren persönliche vorzüge er fürchten muſs. ein collegium, womöglich
eine vertretung der geschlechter, ist die aristokratische form der magi-
stratur. die geronten stehn neben Agamemnon, die gerusia neben den
königen Spartas. so hatte auch der athenische adel dem könige, schon
als dieser noch ein wirklicher könig war, den rat zur seite gestellt,
der von dem amtshause auf dem Areshügel, wo er über mord zu ge-
richte saſs, später benannt wird. dieser rat war der wahre herr Athens
gewesen, da seine mitglieder lebenslänglich blieben, sein recht der coer-
cition und multirung sich über bürger und beamte erstreckte, er die
niedern beamten selbst anstellte und controllirte und die finanzen ganz
in seiner hand hatte. aber die macht dieses rates ist zwar nicht ge-
setzlich, aber factisch im siebenten jahrhundert bereits so geschwächt,
dass er bei keiner gelegenheit eine rolle in unserer überlieferung spielt;
das Kylonische attentat, die gesetzgebungen Drakons und Solons, die
tyrannis des Peisistratos nimmt er scheinbar teilnahmlos hin. schon
die einsetzung der thesmotheten, die der epheten, und noch mehr die
schriftliche fixirung des geltenden rechtes durch Drakon und Solon
muſste die lediglich auf dem herkommen beruhende gewalt des rates
beeinträchtigen, und man wird nicht bezweifeln, daſs die neuerungen
auch diesem zwecke gedient haben. nichts desto weniger lehrt die ver-
fassung selbst, daſs der rat eine bedeutende rolle in der laufenden ver-
waltung gespielt hat: denn die sphaeren der 9 beamten sind fest um-
26)

26) zu klagen, und es gibt dafür eine mündliche instruction. recht spricht die politische
behörde: der name δαμιοϱγοί gilt in Argos, Achaia und häufig. hier wird nun für
die politische behörde im notfalle eine religiöse deputation substituirt, die zu dem
heros von Mykene gebt. ersichtlich ist die inschrift gesetzt, als Mykene rechtlich
nicht mehr existirte, die alten bürger argivische πεδάϝοικοι geworden waren, aber
ihre familienrechte weiter pflegten. der örtliche cult war mit dem orte zerstört:
es giengen nur noch ἱαϱομνάμονες zum Perseus, und diese durften die alten εἰϱη-
μένα zu gunsten der klagenden eltern anwenden. man gedenkt auch dessen, daſs
die attischen Εὐπατϱίδαι an Orestes den Mykenaeer angeknüpft wurden, den εὐπάτωϱ.
v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 4
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[49/0059] Der herrschende stand. der rat. wol den müſsiggang nicht bloſs, weil er den κλῆϱος verfallen lieſs, ge- ahndet, sondern auch weil er den stand entehrte, ganz wie ehebruch und vergewaltigung in jeder form. mag auch erst die tyrannis und die demokratie die staatlichen turnplätze, badstuben, chöre u. a. eingerichtet haben: ein analogon zu der jugenderziehung der Spartiaten hat schwer- lich in Altathen gefehlt, wie denn trotz der stammesverschiedenheit der adelsstaat bei beiden völkern ähnliches hervorbringen muſste. Jederzeit und erst recht, wenn er seine vorrechte bedroht sieht, wird ein stand sich nicht gern durch einzelbeamte vertreten lassen, deren persönliche vorzüge er fürchten muſs. ein collegium, womöglich eine vertretung der geschlechter, ist die aristokratische form der magi- stratur. die geronten stehn neben Agamemnon, die gerusia neben den königen Spartas. so hatte auch der athenische adel dem könige, schon als dieser noch ein wirklicher könig war, den rat zur seite gestellt, der von dem amtshause auf dem Areshügel, wo er über mord zu ge- richte saſs, später benannt wird. dieser rat war der wahre herr Athens gewesen, da seine mitglieder lebenslänglich blieben, sein recht der coer- cition und multirung sich über bürger und beamte erstreckte, er die niedern beamten selbst anstellte und controllirte und die finanzen ganz in seiner hand hatte. aber die macht dieses rates ist zwar nicht ge- setzlich, aber factisch im siebenten jahrhundert bereits so geschwächt, dass er bei keiner gelegenheit eine rolle in unserer überlieferung spielt; das Kylonische attentat, die gesetzgebungen Drakons und Solons, die tyrannis des Peisistratos nimmt er scheinbar teilnahmlos hin. schon die einsetzung der thesmotheten, die der epheten, und noch mehr die schriftliche fixirung des geltenden rechtes durch Drakon und Solon muſste die lediglich auf dem herkommen beruhende gewalt des rates beeinträchtigen, und man wird nicht bezweifeln, daſs die neuerungen auch diesem zwecke gedient haben. nichts desto weniger lehrt die ver- fassung selbst, daſs der rat eine bedeutende rolle in der laufenden ver- waltung gespielt hat: denn die sphaeren der 9 beamten sind fest um- 26) Der rat. 26) zu klagen, und es gibt dafür eine mündliche instruction. recht spricht die politische behörde: der name δαμιοϱγοί gilt in Argos, Achaia und häufig. hier wird nun für die politische behörde im notfalle eine religiöse deputation substituirt, die zu dem heros von Mykene gebt. ersichtlich ist die inschrift gesetzt, als Mykene rechtlich nicht mehr existirte, die alten bürger argivische πεδάϝοικοι geworden waren, aber ihre familienrechte weiter pflegten. der örtliche cult war mit dem orte zerstört: es giengen nur noch ἱαϱομνάμονες zum Perseus, und diese durften die alten εἰϱη- μένα zu gunsten der klagenden eltern anwenden. man gedenkt auch dessen, daſs die attischen Εὐπατϱίδαι an Orestes den Mykenaeer angeknüpft wurden, den εὐπάτωϱ. v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 4

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/59>, abgerufen am 25.04.2024.