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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Der regent. der herrschende stand.
'erbe' 'landgut' und 'los', und wenn der älteste sohn des vaters erbe
antritt, so bezeichnet dasselbe wort lagkhanein diese natürlichste art der
besitzergreifung, wie wenn er bei einer verteilung eroberter bauern-
stellen ein los gezogen hätte. die gutsbesitzer zu Drakons zeiten sind
kleroukhoi wie die colonisten in Mytilene 427.

Wir haben keinerlei überlieferung über die entstehung des privat-Der herr-
schende
stand.

besitzes an grund und boden in Attika, und es wird kaum danach ge-
fragt. und doch deutet alles darauf hin, dass dieser erst spät entstanden
ist, und dass der herrschende stand der grundbesitzer und adlichen sich
eben dadurch von der stammverwandten niederen bevölkerung abgelöst
hat, dass er einen teil des bodens zu seinem privatbesitze machte, wäh-
rend vorher das land gemeindebesitz war. in sehr ausgedehntem masse
ist das land in Athen immer noch in dem besitze ideeller personen, der
götter, phylen, phratrien, geschlechter, nicht zum mindesten der politischen
gemeinden und der gesammtgemeinde, des staates, geblieben. was nicht
nachweislich einem einzelnen gehört, ist des staates.23) die schätze in
der erde gehören diesem.24) auf vielen privaten grundstücken hat der staat
noch fruchtbäume stehen, und er greift überhaupt stark in die freiheit
der bewirtschaftung ein. privatbesitz gibt es strenggenommen nur durch
eine rechtsgiltige zuweisung von seiten des staates, und der besitz bleibt
gewissermassen prekär, da etwaige bessere ansprüche immer vom staate
berücksichtigt werden können.25) das bewusstsein, dass der privatbesitz
an grund und boden durch occupation von ager publicus entstanden ist,
herrscht unter den demokraten, die von Solon eine neue landverteilung,
ges anadasmoi, verlangen. im gegensatze dazu verlangen die besitzenden,
deren vorfahren einst ein gutes oder überhaupt ein los erhalten haben,

23) Die ödländereien, z. b. die kaum als ziegentrift nutzbare kuppe des Bri-
lettos, waren sicherlich res nullius; wer wollte, mochte sie nutzen. aber als man
den marmor zu brechen anfieng, wurden die brüche staatsgut.
24) Er ist durchaus besitzer der bergwerke, und privatbesitz hat sich an ihnen
nicht herausgebildet. dass aber die ganze superficies in den laureotischen bergen
dem staate gehört hätte, ist schwer zu glauben. es hat vielmehr dem eigentümer
des bodens nur die superficies gehört.
25) Die interessante abhandlung von G. Leist über den attischen Eigentums-
streit (Jena 86) verdient eine grammatische ergänzung. es reicht nicht aus zu sagen,
die Athener haben kein wort für eigentum, man muss fragen, wie sie den gedanken
ausdrücken, und die bedeutungen von nemein, oikeioun, ktema, Zeus ktesios, kurios,
karteros, kratein erwägen. das zweite ist eine historische ergänzung, aber in
agrargeschichtlicher richtung: denn erst das immobiliarvermögen schafft ein wirk-
liches eigentumsrecht.

Der regent. der herrschende stand.
‘erbe’ ‘landgut’ und ‘los’, und wenn der älteste sohn des vaters erbe
antritt, so bezeichnet dasselbe wort λαγχάνειν diese natürlichste art der
besitzergreifung, wie wenn er bei einer verteilung eroberter bauern-
stellen ein los gezogen hätte. die gutsbesitzer zu Drakons zeiten sind
κληϱοῦχοι wie die colonisten in Mytilene 427.

Wir haben keinerlei überlieferung über die entstehung des privat-Der herr-
schende
stand.

besitzes an grund und boden in Attika, und es wird kaum danach ge-
fragt. und doch deutet alles darauf hin, daſs dieser erst spät entstanden
ist, und daſs der herrschende stand der grundbesitzer und adlichen sich
eben dadurch von der stammverwandten niederen bevölkerung abgelöst
hat, daſs er einen teil des bodens zu seinem privatbesitze machte, wäh-
rend vorher das land gemeindebesitz war. in sehr ausgedehntem maſse
ist das land in Athen immer noch in dem besitze ideeller personen, der
götter, phylen, phratrien, geschlechter, nicht zum mindesten der politischen
gemeinden und der gesammtgemeinde, des staates, geblieben. was nicht
nachweislich einem einzelnen gehört, ist des staates.23) die schätze in
der erde gehören diesem.24) auf vielen privaten grundstücken hat der staat
noch fruchtbäume stehen, und er greift überhaupt stark in die freiheit
der bewirtschaftung ein. privatbesitz gibt es strenggenommen nur durch
eine rechtsgiltige zuweisung von seiten des staates, und der besitz bleibt
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an grund und boden durch occupation von ager publicus entstanden ist,
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deren vorfahren einst ein gutes oder überhaupt ein los erhalten haben,

23) Die ödländereien, z. b. die kaum als ziegentrift nutzbare kuppe des Bri-
lettos, waren sicherlich res nullius; wer wollte, mochte sie nutzen. aber als man
den marmor zu brechen anfieng, wurden die brüche staatsgut.
24) Er ist durchaus besitzer der bergwerke, und privatbesitz hat sich an ihnen
nicht herausgebildet. daſs aber die ganze superficies in den laureotischen bergen
dem staate gehört hätte, ist schwer zu glauben. es hat vielmehr dem eigentümer
des bodens nur die superficies gehört.
25) Die interessante abhandlung von G. Leist über den attischen Eigentums-
streit (Jena 86) verdient eine grammatische ergänzung. es reicht nicht aus zu sagen,
die Athener haben kein wort für eigentum, man muſs fragen, wie sie den gedanken
ausdrücken, und die bedeutungen von νέμειν, οἰκειοῦν, κτῆμα, Ζεὺς κτήσιος, κύϱιος,
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liches eigentumsrecht.
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[47/0057] Der regent. der herrschende stand. ‘erbe’ ‘landgut’ und ‘los’, und wenn der älteste sohn des vaters erbe antritt, so bezeichnet dasselbe wort λαγχάνειν diese natürlichste art der besitzergreifung, wie wenn er bei einer verteilung eroberter bauern- stellen ein los gezogen hätte. die gutsbesitzer zu Drakons zeiten sind κληϱοῦχοι wie die colonisten in Mytilene 427. Wir haben keinerlei überlieferung über die entstehung des privat- besitzes an grund und boden in Attika, und es wird kaum danach ge- fragt. und doch deutet alles darauf hin, daſs dieser erst spät entstanden ist, und daſs der herrschende stand der grundbesitzer und adlichen sich eben dadurch von der stammverwandten niederen bevölkerung abgelöst hat, daſs er einen teil des bodens zu seinem privatbesitze machte, wäh- rend vorher das land gemeindebesitz war. in sehr ausgedehntem maſse ist das land in Athen immer noch in dem besitze ideeller personen, der götter, phylen, phratrien, geschlechter, nicht zum mindesten der politischen gemeinden und der gesammtgemeinde, des staates, geblieben. was nicht nachweislich einem einzelnen gehört, ist des staates. 23) die schätze in der erde gehören diesem. 24) auf vielen privaten grundstücken hat der staat noch fruchtbäume stehen, und er greift überhaupt stark in die freiheit der bewirtschaftung ein. privatbesitz gibt es strenggenommen nur durch eine rechtsgiltige zuweisung von seiten des staates, und der besitz bleibt gewissermaſsen prekär, da etwaige bessere ansprüche immer vom staate berücksichtigt werden können. 25) das bewuſstsein, daſs der privatbesitz an grund und boden durch occupation von ager publicus entstanden ist, herrscht unter den demokraten, die von Solon eine neue landverteilung, γῆς ἀναδασμοί, verlangen. im gegensatze dazu verlangen die besitzenden, deren vorfahren einst ein gutes oder überhaupt ein los erhalten haben, Der herr- schende stand. 23) Die ödländereien, z. b. die kaum als ziegentrift nutzbare kuppe des Bri- lettos, waren sicherlich res nullius; wer wollte, mochte sie nutzen. aber als man den marmor zu brechen anfieng, wurden die brüche staatsgut. 24) Er ist durchaus besitzer der bergwerke, und privatbesitz hat sich an ihnen nicht herausgebildet. daſs aber die ganze superficies in den laureotischen bergen dem staate gehört hätte, ist schwer zu glauben. es hat vielmehr dem eigentümer des bodens nur die superficies gehört. 25) Die interessante abhandlung von G. Leist über den attischen Eigentums- streit (Jena 86) verdient eine grammatische ergänzung. es reicht nicht aus zu sagen, die Athener haben kein wort für eigentum, man muſs fragen, wie sie den gedanken ausdrücken, und die bedeutungen von νέμειν, οἰκειοῦν, κτῆμα, Ζεὺς κτήσιος, κύϱιος, καϱτεϱός, κϱατεῖν erwägen. das zweite ist eine historische ergänzung, aber in agrargeschichtlicher richtung: denn erst das immobiliarvermögen schafft ein wirk- liches eigentumsrecht.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/57>, abgerufen am 18.04.2024.