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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 2. Von Kekrops bis Solon.
religiöse und politische fortschritt sehr früh getan sein, eher als die
wendung nach Delphi. denn es sind die delischen beziehungen der ost-
küste von der hauptstadt übernommen.21) Athena ist die vermittlerin
zwischen den cultstätten ihres bruders in Delphi und Delos: das war etwas
grosses, was der adelsstaat schon im siebenten jahrhundert erreicht hat.
im heiligen kriege hat Solon die delphischen, später Peisistratos die
delischen verbindungen ausgenutzt.22)

Die politischen obliegenheiten des archons sind die eines schirm-
herrn und vertreters des herrschenden standes: er ist der prostates
tou demou im sinne des damaligen demos. seine erste amtshandlung
ist die proclamation, dass er jeden einzelnen in seinem besitze lassen
und erhalten werde (66, 3). die fürsorge für die herrschenden familien
und ihren besitz ist der inhalt seiner aufsicht und judicatur. er ist der
vormund der erbtöchter und der waisen von amts wegen, er entscheidet
in allen erbschaftssachen, und das familienrecht im weitesten umfange
steht unter ihm. in Athen aber hat der staat in diese verhältnisse über-
aus tief eingegriffen. wenn er die entmündigung eines greises, der
nicht mehr im stande ist, sein vermögen zu verwalten, aussprechen darf,
den einzelnen zur verantwortung zieht, so er sein vermögen durch
untätigkeit (argia) verkommen lässt, auf die anklage eines beliebigen
bürgers die 'schlechte behandlung' (kakosis) von eltern oder gattin
ahndet, so hat selbst in unserer zeit der sich unfehlbar und allmächtig
dünkende staat es noch nicht so weit gebracht, und die spätere attische
demokratie macht von diesen bestimmungen, obwol sie gelten, nicht
leicht gebrauch. in der tat muss es eine sehr eigentümliche gesellschafts-
ordnung sein, die sich diesen beamten gesetzt hat. ihr liegt an der
individuellen freiheit ungleich weniger als an der erhaltung des standes,
und die fürsorge des archons gilt weit weniger dem vater oder sohne
als dem kleros, der frau und erbtochter als der mitgift, der proix.
auch noch in der aristotelischen zeit lässt sich das volk regelmässig über
die erledigten kleroi meldung machen, und heisst die bürgerrolle nach
den lexeis, den 'erbanfällen'. im attischen dient dasselbe wort für

21) Töpffer Herm. 23 über Pythaisten und Deliasten. die verfolgung der local-
culte gehört nicht hierher. störend würde es sein, wenn Hypereides, wie Töpffer
behauptet, den Delier als patroos bezeichnet hätte. aber das durfte Töpffer dem
rhetor Aristides nicht glauben: der allein sagt es.
22) An den Isthmien besitzt Athen die proedrie, und seine beziehungen zu
Korinth sind im sechsten jahrhundert sehr gut. aber in höhere zeit hinauf als die
restitution der Isthmien kann man das schwerlich verfolgen.

II. 2. Von Kekrops bis Solon.
religiöse und politische fortschritt sehr früh getan sein, eher als die
wendung nach Delphi. denn es sind die delischen beziehungen der ost-
küste von der hauptstadt übernommen.21) Athena ist die vermittlerin
zwischen den cultstätten ihres bruders in Delphi und Delos: das war etwas
groſses, was der adelsstaat schon im siebenten jahrhundert erreicht hat.
im heiligen kriege hat Solon die delphischen, später Peisistratos die
delischen verbindungen ausgenutzt.22)

Die politischen obliegenheiten des archons sind die eines schirm-
herrn und vertreters des herrschenden standes: er ist der πϱοστάτης
τοῦ δήμου im sinne des damaligen demos. seine erste amtshandlung
ist die proclamation, daſs er jeden einzelnen in seinem besitze lassen
und erhalten werde (66, 3). die fürsorge für die herrschenden familien
und ihren besitz ist der inhalt seiner aufsicht und judicatur. er ist der
vormund der erbtöchter und der waisen von amts wegen, er entscheidet
in allen erbschaftssachen, und das familienrecht im weitesten umfange
steht unter ihm. in Athen aber hat der staat in diese verhältnisse über-
aus tief eingegriffen. wenn er die entmündigung eines greises, der
nicht mehr im stande ist, sein vermögen zu verwalten, aussprechen darf,
den einzelnen zur verantwortung zieht, so er sein vermögen durch
untätigkeit (ἀϱγία) verkommen läſst, auf die anklage eines beliebigen
bürgers die ‘schlechte behandlung’ (κάκωσις) von eltern oder gattin
ahndet, so hat selbst in unserer zeit der sich unfehlbar und allmächtig
dünkende staat es noch nicht so weit gebracht, und die spätere attische
demokratie macht von diesen bestimmungen, obwol sie gelten, nicht
leicht gebrauch. in der tat muſs es eine sehr eigentümliche gesellschafts-
ordnung sein, die sich diesen beamten gesetzt hat. ihr liegt an der
individuellen freiheit ungleich weniger als an der erhaltung des standes,
und die fürsorge des archons gilt weit weniger dem vater oder sohne
als dem κλῆϱος, der frau und erbtochter als der mitgift, der πϱοίξ.
auch noch in der aristotelischen zeit läſst sich das volk regelmäſsig über
die erledigten κλῆϱοι meldung machen, und heiſst die bürgerrolle nach
den λήξεις, den ‘erbanfällen’. im attischen dient dasselbe wort für

21) Töpffer Herm. 23 über Pythaisten und Deliasten. die verfolgung der local-
culte gehört nicht hierher. störend würde es sein, wenn Hypereides, wie Töpffer
behauptet, den Delier als πατϱῷος bezeichnet hätte. aber das durfte Töpffer dem
rhetor Aristides nicht glauben: der allein sagt es.
22) An den Isthmien besitzt Athen die proedrie, und seine beziehungen zu
Korinth sind im sechsten jahrhundert sehr gut. aber in höhere zeit hinauf als die
restitution der Isthmien kann man das schwerlich verfolgen.
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[46/0056] II. 2. Von Kekrops bis Solon. religiöse und politische fortschritt sehr früh getan sein, eher als die wendung nach Delphi. denn es sind die delischen beziehungen der ost- küste von der hauptstadt übernommen. 21) Athena ist die vermittlerin zwischen den cultstätten ihres bruders in Delphi und Delos: das war etwas groſses, was der adelsstaat schon im siebenten jahrhundert erreicht hat. im heiligen kriege hat Solon die delphischen, später Peisistratos die delischen verbindungen ausgenutzt. 22) Die politischen obliegenheiten des archons sind die eines schirm- herrn und vertreters des herrschenden standes: er ist der πϱοστάτης τοῦ δήμου im sinne des damaligen demos. seine erste amtshandlung ist die proclamation, daſs er jeden einzelnen in seinem besitze lassen und erhalten werde (66, 3). die fürsorge für die herrschenden familien und ihren besitz ist der inhalt seiner aufsicht und judicatur. er ist der vormund der erbtöchter und der waisen von amts wegen, er entscheidet in allen erbschaftssachen, und das familienrecht im weitesten umfange steht unter ihm. in Athen aber hat der staat in diese verhältnisse über- aus tief eingegriffen. wenn er die entmündigung eines greises, der nicht mehr im stande ist, sein vermögen zu verwalten, aussprechen darf, den einzelnen zur verantwortung zieht, so er sein vermögen durch untätigkeit (ἀϱγία) verkommen läſst, auf die anklage eines beliebigen bürgers die ‘schlechte behandlung’ (κάκωσις) von eltern oder gattin ahndet, so hat selbst in unserer zeit der sich unfehlbar und allmächtig dünkende staat es noch nicht so weit gebracht, und die spätere attische demokratie macht von diesen bestimmungen, obwol sie gelten, nicht leicht gebrauch. in der tat muſs es eine sehr eigentümliche gesellschafts- ordnung sein, die sich diesen beamten gesetzt hat. ihr liegt an der individuellen freiheit ungleich weniger als an der erhaltung des standes, und die fürsorge des archons gilt weit weniger dem vater oder sohne als dem κλῆϱος, der frau und erbtochter als der mitgift, der πϱοίξ. auch noch in der aristotelischen zeit läſst sich das volk regelmäſsig über die erledigten κλῆϱοι meldung machen, und heiſst die bürgerrolle nach den λήξεις, den ‘erbanfällen’. im attischen dient dasselbe wort für 21) Töpffer Herm. 23 über Pythaisten und Deliasten. die verfolgung der local- culte gehört nicht hierher. störend würde es sein, wenn Hypereides, wie Töpffer behauptet, den Delier als πατϱῷος bezeichnet hätte. aber das durfte Töpffer dem rhetor Aristides nicht glauben: der allein sagt es. 22) An den Isthmien besitzt Athen die proedrie, und seine beziehungen zu Korinth sind im sechsten jahrhundert sehr gut. aber in höhere zeit hinauf als die restitution der Isthmien kann man das schwerlich verfolgen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/56>, abgerufen am 25.04.2024.