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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die alte verfassung. der könig.
das jahr der entscheidenden revolution. von da ab sind die drei ober-
ämter jährig und dürfen nur einmal bekleidet werden. es tritt zu ihnen
ein collegium von 6 'rechtssetzern' für die civiljudicatur. der rat wird
durch die abtretenden neun beamten ergänzt, also mittelbar von der
gemeinde besetzt, die die beamten wählt, hat aber das recht jeden ein-
zelnen vor dem eintritte einer prüfung zu unterziehen. dass diese
neuerungen alle auf einmal eingeführt seien, wird man billig bezweifeln;
sie bestehen nur sicherlich seit 683, dem jahre der ersten jährigen ober-
beamten. aus der älteren zeit sind eine reihe wichtiger angaben er-
halten, aber zu wenig, um diese periode gesondert darzustellen oder
gar eine geschichtliche erzählung zu versuchen. wir können heute zu-
frieden sein, wenn wir die vorsolonischen institutionen einigermassen
verstehn; hatte es doch weder die Atthis noch Aristoteles auch nur so
weit gebracht.

Obwol der archon vornehmer ist, hat doch der könig anspruchDer könig.
auf den ersten platz, denn er ist der träger der continuität von der
urzeit her: mit recht dürfen sich die Athener rühmen, niemals königs-
los gewesen zu sein.11) noch bis gegen ende des achten jahrhunderts
war das königtum dem angestammten 'fürstengeschlechte', den Medon-
tiden, erblich verblieben, in der weise wie auch später noch die ge-
schlechterpriestertümer. aber schon damals war der könig nur ein be-
amter, der sein amtshaus unterhalb der burg neben denen der anderen
gewählten beamten hatte. die zeit, da könig Akastos das regiment an
den 'regenten' abgab, und feierlichste eide diese constitution befestigten,
lag in unbestimmter ferne. nur den verkehr mit den göttern des staates,
die von alters her öffentlichen cult erfuhren, hat der könig behalten,
denn die menschen konnten an diesem rechte nichts ändern. das war
immer noch sehr viel auch von dem was uns profan erscheint, da die
abgaben zum teil an die götter gezahlt wurden und das heilige recht
sehr weit griff. aber längst nicht mehr entschied der könig nach
eigenem ermessen, sondern es stand ihm der rat zur seite, die ver-
tretung der gemeinde, und der wahrspruch des rates unter vorsitz des
königs richtete den mörder, den brandstifter, den gottesfrevler. um des
verkehrs mit den göttern willen kommt auch die königin für den staat
in betracht, und daraus folgt die forderung rechtmässiger ehe für den
könig. eine anzahl adlicher matronen steht als gerairai12) neben der

11) basiles aei emin eisin sagt der platonische Menexenos 238d in einer vor-
züglichen schilderung der patrios politeia.
12) Wir sollten eigentlich gerairai schreiben os makairai, denn wie die form

Die alte verfassung. der könig.
das jahr der entscheidenden revolution. von da ab sind die drei ober-
ämter jährig und dürfen nur einmal bekleidet werden. es tritt zu ihnen
ein collegium von 6 ‘rechtssetzern’ für die civiljudicatur. der rat wird
durch die abtretenden neun beamten ergänzt, also mittelbar von der
gemeinde besetzt, die die beamten wählt, hat aber das recht jeden ein-
zelnen vor dem eintritte einer prüfung zu unterziehen. daſs diese
neuerungen alle auf einmal eingeführt seien, wird man billig bezweifeln;
sie bestehen nur sicherlich seit 683, dem jahre der ersten jährigen ober-
beamten. aus der älteren zeit sind eine reihe wichtiger angaben er-
halten, aber zu wenig, um diese periode gesondert darzustellen oder
gar eine geschichtliche erzählung zu versuchen. wir können heute zu-
frieden sein, wenn wir die vorsolonischen institutionen einigermaſsen
verstehn; hatte es doch weder die Atthis noch Aristoteles auch nur so
weit gebracht.

Obwol der archon vornehmer ist, hat doch der könig anspruchDer könig.
auf den ersten platz, denn er ist der träger der continuität von der
urzeit her: mit recht dürfen sich die Athener rühmen, niemals königs-
los gewesen zu sein.11) noch bis gegen ende des achten jahrhunderts
war das königtum dem angestammten ‘fürstengeschlechte’, den Medon-
tiden, erblich verblieben, in der weise wie auch später noch die ge-
schlechterpriestertümer. aber schon damals war der könig nur ein be-
amter, der sein amtshaus unterhalb der burg neben denen der anderen
gewählten beamten hatte. die zeit, da könig Akastos das regiment an
den ‘regenten’ abgab, und feierlichste eide diese constitution befestigten,
lag in unbestimmter ferne. nur den verkehr mit den göttern des staates,
die von alters her öffentlichen cult erfuhren, hat der könig behalten,
denn die menschen konnten an diesem rechte nichts ändern. das war
immer noch sehr viel auch von dem was uns profan erscheint, da die
abgaben zum teil an die götter gezahlt wurden und das heilige recht
sehr weit griff. aber längst nicht mehr entschied der könig nach
eigenem ermessen, sondern es stand ihm der rat zur seite, die ver-
tretung der gemeinde, und der wahrspruch des rates unter vorsitz des
königs richtete den mörder, den brandstifter, den gottesfrevler. um des
verkehrs mit den göttern willen kommt auch die königin für den staat
in betracht, und daraus folgt die forderung rechtmäſsiger ehe für den
könig. eine anzahl adlicher matronen steht als γεϱαιϱαί12) neben der

11) βασιλῆς ἀεὶ ἡμῖν εἰσίν sagt der platonische Menexenos 238d in einer vor-
züglichen schilderung der πάτϱιος πολιτεία.
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[41/0051] Die alte verfassung. der könig. das jahr der entscheidenden revolution. von da ab sind die drei ober- ämter jährig und dürfen nur einmal bekleidet werden. es tritt zu ihnen ein collegium von 6 ‘rechtssetzern’ für die civiljudicatur. der rat wird durch die abtretenden neun beamten ergänzt, also mittelbar von der gemeinde besetzt, die die beamten wählt, hat aber das recht jeden ein- zelnen vor dem eintritte einer prüfung zu unterziehen. daſs diese neuerungen alle auf einmal eingeführt seien, wird man billig bezweifeln; sie bestehen nur sicherlich seit 683, dem jahre der ersten jährigen ober- beamten. aus der älteren zeit sind eine reihe wichtiger angaben er- halten, aber zu wenig, um diese periode gesondert darzustellen oder gar eine geschichtliche erzählung zu versuchen. wir können heute zu- frieden sein, wenn wir die vorsolonischen institutionen einigermaſsen verstehn; hatte es doch weder die Atthis noch Aristoteles auch nur so weit gebracht. Obwol der archon vornehmer ist, hat doch der könig anspruch auf den ersten platz, denn er ist der träger der continuität von der urzeit her: mit recht dürfen sich die Athener rühmen, niemals königs- los gewesen zu sein. 11) noch bis gegen ende des achten jahrhunderts war das königtum dem angestammten ‘fürstengeschlechte’, den Medon- tiden, erblich verblieben, in der weise wie auch später noch die ge- schlechterpriestertümer. aber schon damals war der könig nur ein be- amter, der sein amtshaus unterhalb der burg neben denen der anderen gewählten beamten hatte. die zeit, da könig Akastos das regiment an den ‘regenten’ abgab, und feierlichste eide diese constitution befestigten, lag in unbestimmter ferne. nur den verkehr mit den göttern des staates, die von alters her öffentlichen cult erfuhren, hat der könig behalten, denn die menschen konnten an diesem rechte nichts ändern. das war immer noch sehr viel auch von dem was uns profan erscheint, da die abgaben zum teil an die götter gezahlt wurden und das heilige recht sehr weit griff. aber längst nicht mehr entschied der könig nach eigenem ermessen, sondern es stand ihm der rat zur seite, die ver- tretung der gemeinde, und der wahrspruch des rates unter vorsitz des königs richtete den mörder, den brandstifter, den gottesfrevler. um des verkehrs mit den göttern willen kommt auch die königin für den staat in betracht, und daraus folgt die forderung rechtmäſsiger ehe für den könig. eine anzahl adlicher matronen steht als γεϱαιϱαί 12) neben der Der könig. 11) βασιλῆς ἀεὶ ἡμῖν εἰσίν sagt der platonische Menexenos 238d in einer vor- züglichen schilderung der πάτϱιος πολιτεία. 12) Wir sollten eigentlich γέϱαιϱαι schreiben ὡς μάκαιϱαι, denn wie die form

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/51>, abgerufen am 20.04.2024.