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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Ionien. fortleben der novelle.
den eindruck einer weit grösseren glaubhaftigkeit macht als die bei den
Thermopylen). wie viel ängstlicher muss uns nicht zu mute sein, wenn
wir etwa von Pindaros und Pythagoras von Ephesos oder den Gergithes
von Milet bei Aelian lesen? in der tat ist die altionische geschichte
für den historiker fast verloren, und noch scheint es nicht, als wollte
sie der boden uns zurückschenken. dafür ist sie in das reich der poesie
übergegangen und hat dort eine lebenskraft bewiesen, vergleichbar nur
der heldensage.

Ionien hat gleich nach der befreiung durch Alexandros einen neuenFortleben
dieser
tradition

aufschwung genommen, in einem bewussten und berechtigten gegensatze
zu der bevormundung durch Athen und seine litteratur. die schönste
blüte dieser bewegung ist die erneuerung der elegie und des iambos.
die elegie aber griff auf die novellistisch gewordene geschichte, auf die
archaeologie zurück. diese romantische litteratur ist den politeiai der
peripatetiker genau so analog, wie die wissenschaftlich philologische arbeit
des Kallimachos und Eratosthenes der wissenschaftlich aesthetischen des
Aristoteles und seiner schüler. so sind denn auch ihre quellen oft geradezu
dieselben.45) es gehn auch versuche nebenher das epos zu erneuern,
und die archaeologie ganzer landschaften oder einzelner städte so zu
verarbeiten. Methumnes Rodou ktiseis, Thettalika, Messeniaka:
das verhält sich zu den aitia des Kallimachos wie Ephoros zu Aristo-
teles. das zweite jahrhundert bringt noch viele nachzügler auf allen
gebieten, Bithuniaka des Demosthenes, die schriftstellerei des Nikandros
über Aetoler Oetaeer u. dgl., ausgeartete politeiai, wie seine verse aus-
geartetes epos sind. im ersten jahrhundert gibt Alexandros von Milet
in höchst anerkennenswerter weise grosse compilationen über die ar-
chaeologie von Karern Lydern Juden und andern hellenischen und halb-
hellenisirten stämmen. aber weder die poesie noch die wissenschaftliche
schriftstellerei der gelehrten ist volkstümlich geworden. dagegen wuchertFortleben
der novelle

die novelle fort, mit dem aus einer ionischen wurzel erwachsenen Helle-
nismus bis nach Seleukeia am Tigris und Ptolemais am Nil verbreitet.
mitten in der schlimmsten zeit des ausgearteten barokstils begegnen uns
wieder die Ludiaka des Skytobrachion. eine zeitgemässe bearbeitung des
alten Xanthos wollten sie sein: es ist der historische roman, berechnet
lediglich auf das ergetzen des publicums. auch Milesiaka treten wieder
auf, von Aristeides, nicht mehr als geschichtsbuch, sondern als roman,

45) Die erhaltene erzählung aus dem Apollon des Alexandros von Pleuron ist
geradezu ein capitel der Milesiaka so wol im sinne der alten königsgeschichte wie
in dem der erotischen novelle.

Ionien. fortleben der novelle.
den eindruck einer weit gröſseren glaubhaftigkeit macht als die bei den
Thermopylen). wie viel ängstlicher muſs uns nicht zu mute sein, wenn
wir etwa von Pindaros und Pythagoras von Ephesos oder den Gergithes
von Milet bei Aelian lesen? in der tat ist die altionische geschichte
für den historiker fast verloren, und noch scheint es nicht, als wollte
sie der boden uns zurückschenken. dafür ist sie in das reich der poesie
übergegangen und hat dort eine lebenskraft bewiesen, vergleichbar nur
der heldensage.

Ionien hat gleich nach der befreiung durch Alexandros einen neuenFortleben
dieser
tradition

aufschwung genommen, in einem bewuſsten und berechtigten gegensatze
zu der bevormundung durch Athen und seine litteratur. die schönste
blüte dieser bewegung ist die erneuerung der elegie und des iambos.
die elegie aber griff auf die novellistisch gewordene geschichte, auf die
archaeologie zurück. diese romantische litteratur ist den πολιτεῖαι der
peripatetiker genau so analog, wie die wissenschaftlich philologische arbeit
des Kallimachos und Eratosthenes der wissenschaftlich aesthetischen des
Aristoteles und seiner schüler. so sind denn auch ihre quellen oft geradezu
dieselben.45) es gehn auch versuche nebenher das epos zu erneuern,
und die archaeologie ganzer landschaften oder einzelner städte so zu
verarbeiten. Μηϑύμνης Ῥόδου κτίσεις, Θετταλικά, Μεσσηνιακά:
das verhält sich zu den αἴτια des Kallimachos wie Ephoros zu Aristo-
teles. das zweite jahrhundert bringt noch viele nachzügler auf allen
gebieten, Βιϑυνιακά des Demosthenes, die schriftstellerei des Nikandros
über Aetoler Oetaeer u. dgl., ausgeartete πολιτεῖαι, wie seine verse aus-
geartetes epos sind. im ersten jahrhundert gibt Alexandros von Milet
in höchst anerkennenswerter weise groſse compilationen über die ar-
chaeologie von Karern Lydern Juden und andern hellenischen und halb-
hellenisirten stämmen. aber weder die poesie noch die wissenschaftliche
schriftstellerei der gelehrten ist volkstümlich geworden. dagegen wuchertFortleben
der novelle

die novelle fort, mit dem aus einer ionischen wurzel erwachsenen Helle-
nismus bis nach Seleukeia am Tigris und Ptolemais am Nil verbreitet.
mitten in der schlimmsten zeit des ausgearteten barokstils begegnen uns
wieder die Λυδιακά des Skytobrachion. eine zeitgemäſse bearbeitung des
alten Xanthos wollten sie sein: es ist der historische roman, berechnet
lediglich auf das ergetzen des publicums. auch Μιλησιακά treten wieder
auf, von Aristeides, nicht mehr als geschichtsbuch, sondern als roman,

45) Die erhaltene erzählung aus dem Apollon des Alexandros von Pleuron ist
geradezu ein capitel der Μιλησιακά so wol im sinne der alten königsgeschichte wie
in dem der erotischen novelle.
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[31/0041] Ionien. fortleben der novelle. den eindruck einer weit gröſseren glaubhaftigkeit macht als die bei den Thermopylen). wie viel ängstlicher muſs uns nicht zu mute sein, wenn wir etwa von Pindaros und Pythagoras von Ephesos oder den Gergithes von Milet bei Aelian lesen? in der tat ist die altionische geschichte für den historiker fast verloren, und noch scheint es nicht, als wollte sie der boden uns zurückschenken. dafür ist sie in das reich der poesie übergegangen und hat dort eine lebenskraft bewiesen, vergleichbar nur der heldensage. Ionien hat gleich nach der befreiung durch Alexandros einen neuen aufschwung genommen, in einem bewuſsten und berechtigten gegensatze zu der bevormundung durch Athen und seine litteratur. die schönste blüte dieser bewegung ist die erneuerung der elegie und des iambos. die elegie aber griff auf die novellistisch gewordene geschichte, auf die archaeologie zurück. diese romantische litteratur ist den πολιτεῖαι der peripatetiker genau so analog, wie die wissenschaftlich philologische arbeit des Kallimachos und Eratosthenes der wissenschaftlich aesthetischen des Aristoteles und seiner schüler. so sind denn auch ihre quellen oft geradezu dieselben. 45) es gehn auch versuche nebenher das epos zu erneuern, und die archaeologie ganzer landschaften oder einzelner städte so zu verarbeiten. Μηϑύμνης Ῥόδου κτίσεις, Θετταλικά, Μεσσηνιακά: das verhält sich zu den αἴτια des Kallimachos wie Ephoros zu Aristo- teles. das zweite jahrhundert bringt noch viele nachzügler auf allen gebieten, Βιϑυνιακά des Demosthenes, die schriftstellerei des Nikandros über Aetoler Oetaeer u. dgl., ausgeartete πολιτεῖαι, wie seine verse aus- geartetes epos sind. im ersten jahrhundert gibt Alexandros von Milet in höchst anerkennenswerter weise groſse compilationen über die ar- chaeologie von Karern Lydern Juden und andern hellenischen und halb- hellenisirten stämmen. aber weder die poesie noch die wissenschaftliche schriftstellerei der gelehrten ist volkstümlich geworden. dagegen wuchert die novelle fort, mit dem aus einer ionischen wurzel erwachsenen Helle- nismus bis nach Seleukeia am Tigris und Ptolemais am Nil verbreitet. mitten in der schlimmsten zeit des ausgearteten barokstils begegnen uns wieder die Λυδιακά des Skytobrachion. eine zeitgemäſse bearbeitung des alten Xanthos wollten sie sein: es ist der historische roman, berechnet lediglich auf das ergetzen des publicums. auch Μιλησιακά treten wieder auf, von Aristeides, nicht mehr als geschichtsbuch, sondern als roman, Fortleben dieser tradition Fortleben der novelle 45) Die erhaltene erzählung aus dem Apollon des Alexandros von Pleuron ist geradezu ein capitel der Μιλησιακά so wol im sinne der alten königsgeschichte wie in dem der erotischen novelle.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/41>, abgerufen am 18.04.2024.