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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 13. Die briefe des Isokrates.
schlacht freiwillig gestorben: adelou eti ontos pos khresetai te tukhe
Philippos, wie Dionysios sagt (V 537 R.). wer das sagt, hat den brief
nicht gekannt oder verworfen. nun mag einer kommen und ihm zu
liebe jene beiden zeitgenossen der lüge zeihen. der sohn mochte fäl-
schen, um dem vater die schande dieses briefes zu nehmen: aber der
gegner? es existirt ja aber gar keine andere überlieferung über die
zeit, wann Isokrates starb, und diese ist mit dem briefe in keine be-
ziehung gesetzt. man erzählt nur noch von den drei euripideischen versen,
die der alte in der palaestra des Hippokrates recitirte, eh er sterben
gieng, von den drei barbaren, die nach Hellas kamen, zu denen Phi-
lippos nun als der vierte träte. diese anekdote setzt zwar den tod gleich
nach der schlacht voraus, aber sie ist durch keinen gewährsmann ge-
schützt und in sich äusserst unwahrscheinlich: weder hielt Isokrates den
Philippos für einen barbaren, noch war es seine art tragische verse zu
citiren. das ist also eine fabel, gemacht um den feststehenden tod im
antiphilippischen sinne zu deuten.

Wie aber war die situation wirklich in der ersten woche nach der
schlacht? Athen ohne heer, ein grosser teil der waffenfähigen bürger
gefangen; der sieger, der über eine vorzügliche cavallerie verfügte,
konnte jeden tag die pässe des Kithairon überschreiten. auf die helle-
nischen bundesgenossen war kein verlass; der Perserkönig, auf den die
patriotenpartei besondere hoffnungen gesetzt hatte, war zu weit. und
trotzdem herrschten die unversöhnlichen schreier, und Hypereides gieng
ernstlich daran, die sclavenschaft zu befreien und zu bewaffnen. es hatte
eben alles den kopf verloren; wenn Philippos nicht kaltes blut behalten
hätte und zugewartet, bis das strohfeuer dieses verspäteten opfermutes
niedergebrannt war, so wäre Athen verloren gewesen. wer konnte aber
wissen, wie er den wunderbar leichten erfolg ertragen würde? dass da
ein alter kranker mann, der seine letzte kraft daran gesetzt hatte, diesen
könig und seine vaterstadt in ein gedeihliches verhältnis zu bringen, einer
der zudem die zeiten von 405/3 aus eigner erinnerung kannte, nicht
mehr leben mag und die speise verweigert, ist menschlich und ist
glaublich. er demonstrirt weder für noch gegen Philippos, er will nur
den jüngsten tag nicht mehr erleben. so hat E. Curtius bereits ganz
richtig die tatsache seines todes in diesen tagen erläutert: wenn irgend

249. auch sind beide zahlen durch den durch sie erzeugten irrtum geschützt, dass
es die tage der totenfeier für die gefallenen gewesen wären: die rituellen trauer-
tage stehen ja fest. dass die asche erst viel später nach Athen gebracht ist, weiss
wer sich um die geschichte gekümmert hat.

III. 13. Die briefe des Isokrates.
schlacht freiwillig gestorben: ἀδήλου ἔτι ὄντος πῶς χϱήσεται τῇ τύχῃ
Φίλιππος, wie Dionysios sagt (V 537 R.). wer das sagt, hat den brief
nicht gekannt oder verworfen. nun mag einer kommen und ihm zu
liebe jene beiden zeitgenossen der lüge zeihen. der sohn mochte fäl-
schen, um dem vater die schande dieses briefes zu nehmen: aber der
gegner? es existirt ja aber gar keine andere überlieferung über die
zeit, wann Isokrates starb, und diese ist mit dem briefe in keine be-
ziehung gesetzt. man erzählt nur noch von den drei euripideischen versen,
die der alte in der palaestra des Hippokrates recitirte, eh er sterben
gieng, von den drei barbaren, die nach Hellas kamen, zu denen Phi-
lippos nun als der vierte träte. diese anekdote setzt zwar den tod gleich
nach der schlacht voraus, aber sie ist durch keinen gewährsmann ge-
schützt und in sich äuſserst unwahrscheinlich: weder hielt Isokrates den
Philippos für einen barbaren, noch war es seine art tragische verse zu
citiren. das ist also eine fabel, gemacht um den feststehenden tod im
antiphilippischen sinne zu deuten.

Wie aber war die situation wirklich in der ersten woche nach der
schlacht? Athen ohne heer, ein groſser teil der waffenfähigen bürger
gefangen; der sieger, der über eine vorzügliche cavallerie verfügte,
konnte jeden tag die pässe des Kithairon überschreiten. auf die helle-
nischen bundesgenossen war kein verlaſs; der Perserkönig, auf den die
patriotenpartei besondere hoffnungen gesetzt hatte, war zu weit. und
trotzdem herrschten die unversöhnlichen schreier, und Hypereides gieng
ernstlich daran, die sclavenschaft zu befreien und zu bewaffnen. es hatte
eben alles den kopf verloren; wenn Philippos nicht kaltes blut behalten
hätte und zugewartet, bis das strohfeuer dieses verspäteten opfermutes
niedergebrannt war, so wäre Athen verloren gewesen. wer konnte aber
wissen, wie er den wunderbar leichten erfolg ertragen würde? daſs da
ein alter kranker mann, der seine letzte kraft daran gesetzt hatte, diesen
könig und seine vaterstadt in ein gedeihliches verhältnis zu bringen, einer
der zudem die zeiten von 405/3 aus eigner erinnerung kannte, nicht
mehr leben mag und die speise verweigert, ist menschlich und ist
glaublich. er demonstrirt weder für noch gegen Philippos, er will nur
den jüngsten tag nicht mehr erleben. so hat E. Curtius bereits ganz
richtig die tatsache seines todes in diesen tagen erläutert: wenn irgend

249. auch sind beide zahlen durch den durch sie erzeugten irrtum geschützt, daſs
es die tage der totenfeier für die gefallenen gewesen wären: die rituellen trauer-
tage stehen ja fest. daſs die asche erst viel später nach Athen gebracht ist, weiſs
wer sich um die geschichte gekümmert hat.
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[396/0406] III. 13. Die briefe des Isokrates. schlacht freiwillig gestorben: ἀδήλου ἔτι ὄντος πῶς χϱήσεται τῇ τύχῃ Φίλιππος, wie Dionysios sagt (V 537 R.). wer das sagt, hat den brief nicht gekannt oder verworfen. nun mag einer kommen und ihm zu liebe jene beiden zeitgenossen der lüge zeihen. der sohn mochte fäl- schen, um dem vater die schande dieses briefes zu nehmen: aber der gegner? es existirt ja aber gar keine andere überlieferung über die zeit, wann Isokrates starb, und diese ist mit dem briefe in keine be- ziehung gesetzt. man erzählt nur noch von den drei euripideischen versen, die der alte in der palaestra des Hippokrates recitirte, eh er sterben gieng, von den drei barbaren, die nach Hellas kamen, zu denen Phi- lippos nun als der vierte träte. diese anekdote setzt zwar den tod gleich nach der schlacht voraus, aber sie ist durch keinen gewährsmann ge- schützt und in sich äuſserst unwahrscheinlich: weder hielt Isokrates den Philippos für einen barbaren, noch war es seine art tragische verse zu citiren. das ist also eine fabel, gemacht um den feststehenden tod im antiphilippischen sinne zu deuten. Wie aber war die situation wirklich in der ersten woche nach der schlacht? Athen ohne heer, ein groſser teil der waffenfähigen bürger gefangen; der sieger, der über eine vorzügliche cavallerie verfügte, konnte jeden tag die pässe des Kithairon überschreiten. auf die helle- nischen bundesgenossen war kein verlaſs; der Perserkönig, auf den die patriotenpartei besondere hoffnungen gesetzt hatte, war zu weit. und trotzdem herrschten die unversöhnlichen schreier, und Hypereides gieng ernstlich daran, die sclavenschaft zu befreien und zu bewaffnen. es hatte eben alles den kopf verloren; wenn Philippos nicht kaltes blut behalten hätte und zugewartet, bis das strohfeuer dieses verspäteten opfermutes niedergebrannt war, so wäre Athen verloren gewesen. wer konnte aber wissen, wie er den wunderbar leichten erfolg ertragen würde? daſs da ein alter kranker mann, der seine letzte kraft daran gesetzt hatte, diesen könig und seine vaterstadt in ein gedeihliches verhältnis zu bringen, einer der zudem die zeiten von 405/3 aus eigner erinnerung kannte, nicht mehr leben mag und die speise verweigert, ist menschlich und ist glaublich. er demonstrirt weder für noch gegen Philippos, er will nur den jüngsten tag nicht mehr erleben. so hat E. Curtius bereits ganz richtig die tatsache seines todes in diesen tagen erläutert: wenn irgend 6) 6) 249. auch sind beide zahlen durch den durch sie erzeugten irrtum geschützt, daſs es die tage der totenfeier für die gefallenen gewesen wären: die rituellen trauer- tage stehen ja fest. daſs die asche erst viel später nach Athen gebracht ist, weiſs wer sich um die geschichte gekümmert hat.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/406>, abgerufen am 20.04.2024.