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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Brief 9. brief 3.
die berechtigung gegeben haben wird, als er so verstümmelt vorlag, wie
wir ihn lesen.

Über den sechsten brief, an Iasons söhne, kann ich mir noch keinBrief 6.
festes urteil erlauben, da die momente für und wider sich die wage
halten. ich mag diese unbefriedigende rechnung nicht auflegen.

Um so sicherer bin ich, dass der dritte brief, der neuerdingsBrief 3.
mehrfach als ächt behandelt ist, eine tendenziöse fälschung, keine
harmlose rhetorenfiction, aber noch weniger ein werk des Isokrates
ist. der brief will geschrieben sein, nachdem Antipatros, der gesandte
des Philippos, den frieden nach der schlacht von Chaironeia in
Athen abgeschlossen und Philippos bereits die absicht kund getan
hat, sich zum feldherrn der Hellenen gegen Asien wählen zu lassen.
den agon gegenemenos (2), der die Hellenen alle zur raison gebracht
hat und die intentionen des königs als richtschnur ihrer eigenen
wünsche zu betrachten zwingt, kann nur eine interpretatorische gewalt-
tat auf etwas anderes als die entscheidungsschlacht beziehen, die am
siebenten metageitnion 338 bei Chaironeia wirklich die Hellenen in diese
zwangslage versetzt hatte. es ist kein weiteres festes datum erhalten;
zwei monate später, am totenfeste des pyanopsion, war alles vorüber.
aber da in Athen zunächst die patrioten sich auf den äusserten wider-
stand rüsteten, Philippos auf dem schlachtfelde halten blieb und diplo-
matische verhandlung durch die versagung der leichen zu erzwingen
suchte, dann Boeotien unterwarf und neu ordnete, während die ge-
sandtschaften hin und her giengen, so kann Antipatros wirklich vor an-
fang boedromion Athen nicht verlassen haben. also da will der brief
geschrieben sein. es ist mir sehr lieb, dass man darüber nicht zu streiten
braucht, ob Isokrates, der steinalte mann, vaterlandslos genug gewesen
sei, sich darüber glücklich zu preisen, dass er diesen tag erlebt hätte
(6): mir ist die rhetorik wahrhaftig zuwider und die allgemeine bil-
dung noch mehr, aber ich könnte das dem Isokrates nicht zutrauen.
doch zum glück braucht man das nicht zu bereden: er war ja damals
schon tot. so rede man doch nicht um die sache herum, sondern be-
kenne farbe, entweder oder. entweder der brief ist gefälscht, oder die
beiden zeitgenossen hahen gelogen, Aphareus, der stiefsohn des Iso-
krates, und Demetrios von Phaleron, der schüler seines feindes Aristo-
teles. denn nach jenem ist er vier, nach diesem neun tage6) nach der

6) Diese zahlen ausgeschrieben in der plutarchischen vita p. 250 West. die
gewährsmänner mit denselben zahlen (nur der leichte schreibfehler id für d) in
der vita der Isokrateshandschriften 258. die zahl 4 auch noch bei dem Plutarch

Brief 9. brief 3.
die berechtigung gegeben haben wird, als er so verstümmelt vorlag, wie
wir ihn lesen.

Über den sechsten brief, an Iasons söhne, kann ich mir noch keinBrief 6.
festes urteil erlauben, da die momente für und wider sich die wage
halten. ich mag diese unbefriedigende rechnung nicht auflegen.

Um so sicherer bin ich, daſs der dritte brief, der neuerdingsBrief 3.
mehrfach als ächt behandelt ist, eine tendenziöse fälschung, keine
harmlose rhetorenfiction, aber noch weniger ein werk des Isokrates
ist. der brief will geschrieben sein, nachdem Antipatros, der gesandte
des Philippos, den frieden nach der schlacht von Chaironeia in
Athen abgeschlossen und Philippos bereits die absicht kund getan
hat, sich zum feldherrn der Hellenen gegen Asien wählen zu lassen.
den ἀγὼν γεγενημένος (2), der die Hellenen alle zur raison gebracht
hat und die intentionen des königs als richtschnur ihrer eigenen
wünsche zu betrachten zwingt, kann nur eine interpretatorische gewalt-
tat auf etwas anderes als die entscheidungsschlacht beziehen, die am
siebenten metageitnion 338 bei Chaironeia wirklich die Hellenen in diese
zwangslage versetzt hatte. es ist kein weiteres festes datum erhalten;
zwei monate später, am totenfeste des pyanopsion, war alles vorüber.
aber da in Athen zunächst die patrioten sich auf den äuſserten wider-
stand rüsteten, Philippos auf dem schlachtfelde halten blieb und diplo-
matische verhandlung durch die versagung der leichen zu erzwingen
suchte, dann Boeotien unterwarf und neu ordnete, während die ge-
sandtschaften hin und her giengen, so kann Antipatros wirklich vor an-
fang boedromion Athen nicht verlassen haben. also da will der brief
geschrieben sein. es ist mir sehr lieb, daſs man darüber nicht zu streiten
braucht, ob Isokrates, der steinalte mann, vaterlandslos genug gewesen
sei, sich darüber glücklich zu preisen, daſs er diesen tag erlebt hätte
(6): mir ist die rhetorik wahrhaftig zuwider und die allgemeine bil-
dung noch mehr, aber ich könnte das dem Isokrates nicht zutrauen.
doch zum glück braucht man das nicht zu bereden: er war ja damals
schon tot. so rede man doch nicht um die sache herum, sondern be-
kenne farbe, entweder oder. entweder der brief ist gefälscht, oder die
beiden zeitgenossen hahen gelogen, Aphareus, der stiefsohn des Iso-
krates, und Demetrios von Phaleron, der schüler seines feindes Aristo-
teles. denn nach jenem ist er vier, nach diesem neun tage6) nach der

6) Diese zahlen ausgeschrieben in der plutarchischen vita p. 250 West. die
gewährsmänner mit denselben zahlen (nur der leichte schreibfehler ιδ΄ für δ΄) in
der vita der Isokrateshandschriften 258. die zahl 4 auch noch bei dem Plutarch
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[395/0405] Brief 9. brief 3. die berechtigung gegeben haben wird, als er so verstümmelt vorlag, wie wir ihn lesen. Über den sechsten brief, an Iasons söhne, kann ich mir noch kein festes urteil erlauben, da die momente für und wider sich die wage halten. ich mag diese unbefriedigende rechnung nicht auflegen. Brief 6. Um so sicherer bin ich, daſs der dritte brief, der neuerdings mehrfach als ächt behandelt ist, eine tendenziöse fälschung, keine harmlose rhetorenfiction, aber noch weniger ein werk des Isokrates ist. der brief will geschrieben sein, nachdem Antipatros, der gesandte des Philippos, den frieden nach der schlacht von Chaironeia in Athen abgeschlossen und Philippos bereits die absicht kund getan hat, sich zum feldherrn der Hellenen gegen Asien wählen zu lassen. den ἀγὼν γεγενημένος (2), der die Hellenen alle zur raison gebracht hat und die intentionen des königs als richtschnur ihrer eigenen wünsche zu betrachten zwingt, kann nur eine interpretatorische gewalt- tat auf etwas anderes als die entscheidungsschlacht beziehen, die am siebenten metageitnion 338 bei Chaironeia wirklich die Hellenen in diese zwangslage versetzt hatte. es ist kein weiteres festes datum erhalten; zwei monate später, am totenfeste des pyanopsion, war alles vorüber. aber da in Athen zunächst die patrioten sich auf den äuſserten wider- stand rüsteten, Philippos auf dem schlachtfelde halten blieb und diplo- matische verhandlung durch die versagung der leichen zu erzwingen suchte, dann Boeotien unterwarf und neu ordnete, während die ge- sandtschaften hin und her giengen, so kann Antipatros wirklich vor an- fang boedromion Athen nicht verlassen haben. also da will der brief geschrieben sein. es ist mir sehr lieb, daſs man darüber nicht zu streiten braucht, ob Isokrates, der steinalte mann, vaterlandslos genug gewesen sei, sich darüber glücklich zu preisen, daſs er diesen tag erlebt hätte (6): mir ist die rhetorik wahrhaftig zuwider und die allgemeine bil- dung noch mehr, aber ich könnte das dem Isokrates nicht zutrauen. doch zum glück braucht man das nicht zu bereden: er war ja damals schon tot. so rede man doch nicht um die sache herum, sondern be- kenne farbe, entweder oder. entweder der brief ist gefälscht, oder die beiden zeitgenossen hahen gelogen, Aphareus, der stiefsohn des Iso- krates, und Demetrios von Phaleron, der schüler seines feindes Aristo- teles. denn nach jenem ist er vier, nach diesem neun tage 6) nach der Brief 3. 6) Diese zahlen ausgeschrieben in der plutarchischen vita p. 250 West. die gewährsmänner mit denselben zahlen (nur der leichte schreibfehler ιδ΄ für δ΄) in der vita der Isokrateshandschriften 258. die zahl 4 auch noch bei dem Plutarch

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/405>, abgerufen am 19.04.2024.