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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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13.
DIE BRIEFE DES ISOKRATES.


Auf die stimmung, die jeden griechischen brief unbesehens verwarf,
ist die entgegengesetzte gefolgt; es ist das jedoch kein fortschritt, denn
stimmungen genügen für die wissenschaft nicht. ich brauchte für den
prinzenerzieher Aristoteles den fünften brief, wenn er ächt war: deshalb
habe ich die sache untersucht, und gerade weil das ergebnis kein ein-
faches ja oder nein ist, halte ich es für richtig.

Der brief an Dionysios (1) ist durch die rede an Philippos (5, 81)Brief 1.
so sicher bezeugt, dass man, um ihn zu verwerfen, die absicht eines
fälschers wahrscheinlich machen müsste, der auf grund jener stelle einen
brief verfertigt hätte. das ist nicht möglich. es kommt hinzu, dass der
brief nur ein sehr schön geschriebenes prooemium enthält, das eine
wichtige politische erörterung verspricht. diese zu unterdrücken konnte
Isokrates alle veranlassung haben, wenn die politischen ereignisse eine
für ihn unerwünschte wendung genommen hatten, und der sicilische fürst
mit der entgegengesetzten politik erfolgreich gewesen war: der fälscher
hätte bequem ex eventu schreiben können was ihm passte. der brief
nimmt auch auf den Panegyrikos in durchaus angemessener weise be-
zug (6), etwa wie die rede an Philippos, und wenn die nachteile des
briefes gegenüber dem gespräche so behandelt werden (3), dass man die
nachwirkung der schönen platonischen kritik (Phaidr. 275e) spürt, so
spricht das vollends für den verfasser, der trotz aller späteren entfrem-
dung den Phaidros zu viel und zu gerne gelesen hatte, um ihn je zu
vergessen.

Den gleichen stempel der ächtheit tragen die beiden empfehlungsbriefeBrief 7. 8.
an Timotheos von Herakleia und die Mytilenaeer. so viel detail, das wir
als geschichtlich zutreffend erkennen, wo wir es controlliren können,
und in sehr viel grösserem umfange zu beurteilen gar nicht in der lage

13.
DIE BRIEFE DES ISOKRATES.


Auf die stimmung, die jeden griechischen brief unbesehens verwarf,
ist die entgegengesetzte gefolgt; es ist das jedoch kein fortschritt, denn
stimmungen genügen für die wissenschaft nicht. ich brauchte für den
prinzenerzieher Aristoteles den fünften brief, wenn er ächt war: deshalb
habe ich die sache untersucht, und gerade weil das ergebnis kein ein-
faches ja oder nein ist, halte ich es für richtig.

Der brief an Dionysios (1) ist durch die rede an Philippos (5, 81)Brief 1.
so sicher bezeugt, daſs man, um ihn zu verwerfen, die absicht eines
fälschers wahrscheinlich machen müſste, der auf grund jener stelle einen
brief verfertigt hätte. das ist nicht möglich. es kommt hinzu, daſs der
brief nur ein sehr schön geschriebenes prooemium enthält, das eine
wichtige politische erörterung verspricht. diese zu unterdrücken konnte
Isokrates alle veranlassung haben, wenn die politischen ereignisse eine
für ihn unerwünschte wendung genommen hatten, und der sicilische fürst
mit der entgegengesetzten politik erfolgreich gewesen war: der fälscher
hätte bequem ex eventu schreiben können was ihm paſste. der brief
nimmt auch auf den Panegyrikos in durchaus angemessener weise be-
zug (6), etwa wie die rede an Philippos, und wenn die nachteile des
briefes gegenüber dem gespräche so behandelt werden (3), daſs man die
nachwirkung der schönen platonischen kritik (Phaidr. 275e) spürt, so
spricht das vollends für den verfasser, der trotz aller späteren entfrem-
dung den Phaidros zu viel und zu gerne gelesen hatte, um ihn je zu
vergessen.

Den gleichen stempel der ächtheit tragen die beiden empfehlungsbriefeBrief 7. 8.
an Timotheos von Herakleia und die Mytilenaeer. so viel detail, das wir
als geschichtlich zutreffend erkennen, wo wir es controlliren können,
und in sehr viel gröſserem umfange zu beurteilen gar nicht in der lage

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[[391]/0401] 13. DIE BRIEFE DES ISOKRATES. Auf die stimmung, die jeden griechischen brief unbesehens verwarf, ist die entgegengesetzte gefolgt; es ist das jedoch kein fortschritt, denn stimmungen genügen für die wissenschaft nicht. ich brauchte für den prinzenerzieher Aristoteles den fünften brief, wenn er ächt war: deshalb habe ich die sache untersucht, und gerade weil das ergebnis kein ein- faches ja oder nein ist, halte ich es für richtig. Der brief an Dionysios (1) ist durch die rede an Philippos (5, 81) so sicher bezeugt, daſs man, um ihn zu verwerfen, die absicht eines fälschers wahrscheinlich machen müſste, der auf grund jener stelle einen brief verfertigt hätte. das ist nicht möglich. es kommt hinzu, daſs der brief nur ein sehr schön geschriebenes prooemium enthält, das eine wichtige politische erörterung verspricht. diese zu unterdrücken konnte Isokrates alle veranlassung haben, wenn die politischen ereignisse eine für ihn unerwünschte wendung genommen hatten, und der sicilische fürst mit der entgegengesetzten politik erfolgreich gewesen war: der fälscher hätte bequem ex eventu schreiben können was ihm paſste. der brief nimmt auch auf den Panegyrikos in durchaus angemessener weise be- zug (6), etwa wie die rede an Philippos, und wenn die nachteile des briefes gegenüber dem gespräche so behandelt werden (3), daſs man die nachwirkung der schönen platonischen kritik (Phaidr. 275e) spürt, so spricht das vollends für den verfasser, der trotz aller späteren entfrem- dung den Phaidros zu viel und zu gerne gelesen hatte, um ihn je zu vergessen. Brief 1. Den gleichen stempel der ächtheit tragen die beiden empfehlungsbriefe an Timotheos von Herakleia und die Mytilenaeer. so viel detail, das wir als geschichtlich zutreffend erkennen, wo wir es controlliren können, und in sehr viel gröſserem umfange zu beurteilen gar nicht in der lage Brief 7. 8.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. [391]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/401>, abgerufen am 20.04.2024.