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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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I. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
gestellten die geschichte der eigenen heimat zur aufgabe wählen, Ion
von Chios und noch den peripatetiker Duris von Samos. die Aeoler
von Lesbos und Kyme40) stehen den Ioniern gleich, und diese zeigen
dieselbe regsamkeit auf den Kykladen, am Hellespont und im Pontos41)
wie in den zwölfstädten der küste; am Pontos nimmt aber auch die
megarische pflanzstadt Herakleia einen ehrenplatz auf allen gebieten des
geistigen lebens ein.42) dass wirklich zeitgenössische chronikartige auf-
zeichnungen und viele alte urkunden vorhanden waren, versteht sich
eigentlich von selbst. zufällig erhaltene stücke, wie über die gründung
von Ephesos aus der dortigen und der siphnischen tradition43) oder
die schiedssprüche im Athenatempel zu Priene, liefern auch greifbare
belege. für manchen ist vielleicht bezeichnender, dass Aristoteles in der
samischen Politie das erscheinen einer weissen schwalbe, so gross wie
ein rebhuhn, notirt.44) aber die lust zu fabuliren, die freude an dem
spiele der phantasie und dem bunten leben, die Ionien als erbe Homers
besass, ist für die rein geschichtliche überlieferung verhängnisvoll ge-
worden. die schriftstellerei stand im zeichen der novelle, als sie die
geschichtliche überlieferung zu behandeln begann, der subjectivismus und
rationalismus trat hinzu, und so sind gerade die ionischen traditionen
für den historiker mindestens viel schwerer verwendbar geworden als
die nakten namen und daten aus anderen orten. schon wenn wir die
lydische geschichte und die ionische, so weit sie herangezogen wird, bei
Herodotos lesen, werden wir oft bedenklich (obwol die schlacht bei Lade

40) Noch Menekrates von Elaia, ein schüler des Xenokrates, schreibt ktiseis
seiner aeolischen heimat (Strab. 572 u. ö., immer aus Demetrios von Skepsis).
41) Schriftsteller aus älterer zeit (wie später namentlich Demetrios von Kal-
latis) kenne ich nicht, aber die gründungsdaten sind zum teil erhalten, und Aristo-
teles verfügt über historisches material selbst aus Phasis und Istros.
42) Hier steht im dritten jahrhundert selbst die chronik des dichters Phere-
timos neben der des staatsmannes Nymphis. da die stadt erst in der mitte des
sechsten jahrhunderts entstanden ist und dauernde nahe beziehnung zu Athen unter-
halten hatte, ist es nicht wunderbar, dass sich gute überlieferung in geschichtlicher
form erhalten hatte, bis sie aufgezeichnet ward, und schon vorher Aristoteles und
andere über die herakleotischen verhältnisse orientirt waren. wie wichtig die stadt
diesem erschienen ist, vgl. I 10.
43) oroi Ephesion Athen. VII 361, oroi Siphnion VI 267.
44) Herakl. 31 ephane leuke khelidon ouk elatton perdikos. der iambische
trimeter ist durch zufall entstanden; es ist keiner für altionische metrik. dieselbe
tatsache aus den anonymen oroi Samiakoi bei Antig. Karystr. Parad. 120. das er-
scheinen der ersten weissen tauben berichtete Charon in seiner lampsakenischen
chronik, Athen. IX 394.

I. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
gestellten die geschichte der eigenen heimat zur aufgabe wählen, Ion
von Chios und noch den peripatetiker Duris von Samos. die Aeoler
von Lesbos und Kyme40) stehen den Ioniern gleich, und diese zeigen
dieselbe regsamkeit auf den Kykladen, am Hellespont und im Pontos41)
wie in den zwölfstädten der küste; am Pontos nimmt aber auch die
megarische pflanzstadt Herakleia einen ehrenplatz auf allen gebieten des
geistigen lebens ein.42) daſs wirklich zeitgenöſsische chronikartige auf-
zeichnungen und viele alte urkunden vorhanden waren, versteht sich
eigentlich von selbst. zufällig erhaltene stücke, wie über die gründung
von Ephesos aus der dortigen und der siphnischen tradition43) oder
die schiedssprüche im Athenatempel zu Priene, liefern auch greifbare
belege. für manchen ist vielleicht bezeichnender, daſs Aristoteles in der
samischen Politie das erscheinen einer weiſsen schwalbe, so groſs wie
ein rebhuhn, notirt.44) aber die lust zu fabuliren, die freude an dem
spiele der phantasie und dem bunten leben, die Ionien als erbe Homers
besaſs, ist für die rein geschichtliche überlieferung verhängnisvoll ge-
worden. die schriftstellerei stand im zeichen der novelle, als sie die
geschichtliche überlieferung zu behandeln begann, der subjectivismus und
rationalismus trat hinzu, und so sind gerade die ionischen traditionen
für den historiker mindestens viel schwerer verwendbar geworden als
die nakten namen und daten aus anderen orten. schon wenn wir die
lydische geschichte und die ionische, so weit sie herangezogen wird, bei
Herodotos lesen, werden wir oft bedenklich (obwol die schlacht bei Lade

40) Noch Menekrates von Elaia, ein schüler des Xenokrates, schreibt κτίσεις
seiner aeolischen heimat (Strab. 572 u. ö., immer aus Demetrios von Skepsis).
41) Schriftsteller aus älterer zeit (wie später namentlich Demetrios von Kal-
latis) kenne ich nicht, aber die gründungsdaten sind zum teil erhalten, und Aristo-
teles verfügt über historisches material selbst aus Phasis und Istros.
42) Hier steht im dritten jahrhundert selbst die chronik des dichters Phere-
timos neben der des staatsmannes Nymphis. da die stadt erst in der mitte des
sechsten jahrhunderts entstanden ist und dauernde nahe beziehnung zu Athen unter-
halten hatte, ist es nicht wunderbar, daſs sich gute überlieferung in geschichtlicher
form erhalten hatte, bis sie aufgezeichnet ward, und schon vorher Aristoteles und
andere über die herakleotischen verhältnisse orientirt waren. wie wichtig die stadt
diesem erschienen ist, vgl. I 10.
43) ὧϱοι Ἐφεσίων Athen. VII 361, ὧϱοι Σιφνίων VI 267.
44) Herakl. 31 ἐφάνη λευκὴ χελιδὼν οὐκ ἐλάττων πέϱδικος. der iambische
trimeter ist durch zufall entstanden; es ist keiner für altionische metrik. dieselbe
tatsache aus den anonymen ὧϱοι Σαμιακοί bei Antig. Karystr. Parad. 120. das er-
scheinen der ersten weiſsen tauben berichtete Charon in seiner lampsakenischen
chronik, Athen. IX 394.
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[30/0040] I. 1. Die quellen der griechischen geschichte. gestellten die geschichte der eigenen heimat zur aufgabe wählen, Ion von Chios und noch den peripatetiker Duris von Samos. die Aeoler von Lesbos und Kyme 40) stehen den Ioniern gleich, und diese zeigen dieselbe regsamkeit auf den Kykladen, am Hellespont und im Pontos 41) wie in den zwölfstädten der küste; am Pontos nimmt aber auch die megarische pflanzstadt Herakleia einen ehrenplatz auf allen gebieten des geistigen lebens ein. 42) daſs wirklich zeitgenöſsische chronikartige auf- zeichnungen und viele alte urkunden vorhanden waren, versteht sich eigentlich von selbst. zufällig erhaltene stücke, wie über die gründung von Ephesos aus der dortigen und der siphnischen tradition 43) oder die schiedssprüche im Athenatempel zu Priene, liefern auch greifbare belege. für manchen ist vielleicht bezeichnender, daſs Aristoteles in der samischen Politie das erscheinen einer weiſsen schwalbe, so groſs wie ein rebhuhn, notirt. 44) aber die lust zu fabuliren, die freude an dem spiele der phantasie und dem bunten leben, die Ionien als erbe Homers besaſs, ist für die rein geschichtliche überlieferung verhängnisvoll ge- worden. die schriftstellerei stand im zeichen der novelle, als sie die geschichtliche überlieferung zu behandeln begann, der subjectivismus und rationalismus trat hinzu, und so sind gerade die ionischen traditionen für den historiker mindestens viel schwerer verwendbar geworden als die nakten namen und daten aus anderen orten. schon wenn wir die lydische geschichte und die ionische, so weit sie herangezogen wird, bei Herodotos lesen, werden wir oft bedenklich (obwol die schlacht bei Lade 40) Noch Menekrates von Elaia, ein schüler des Xenokrates, schreibt κτίσεις seiner aeolischen heimat (Strab. 572 u. ö., immer aus Demetrios von Skepsis). 41) Schriftsteller aus älterer zeit (wie später namentlich Demetrios von Kal- latis) kenne ich nicht, aber die gründungsdaten sind zum teil erhalten, und Aristo- teles verfügt über historisches material selbst aus Phasis und Istros. 42) Hier steht im dritten jahrhundert selbst die chronik des dichters Phere- timos neben der des staatsmannes Nymphis. da die stadt erst in der mitte des sechsten jahrhunderts entstanden ist und dauernde nahe beziehnung zu Athen unter- halten hatte, ist es nicht wunderbar, daſs sich gute überlieferung in geschichtlicher form erhalten hatte, bis sie aufgezeichnet ward, und schon vorher Aristoteles und andere über die herakleotischen verhältnisse orientirt waren. wie wichtig die stadt diesem erschienen ist, vgl. I 10. 43) ὧϱοι Ἐφεσίων Athen. VII 361, ὧϱοι Σιφνίων VI 267. 44) Herakl. 31 ἐφάνη λευκὴ χελιδὼν οὐκ ἐλάττων πέϱδικος. der iambische trimeter ist durch zufall entstanden; es ist keiner für altionische metrik. dieselbe tatsache aus den anonymen ὧϱοι Σαμιακοί bei Antig. Karystr. Parad. 120. das er- scheinen der ersten weiſsen tauben berichtete Charon in seiner lampsakenischen chronik, Athen. IX 394.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/40>, abgerufen am 28.03.2024.