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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Der gegner des Isokrates.
nicht scharf gesondert hat. er schliesst sogar in einzelnen wendungen
die Athener mit ein, indem er in der ersten person des pluralis redet.
die hatten zwar schwer genug unter der reaction, eben durch die Dreissig,
zu leiden gehabt, aber der angegriffene schriftsteller war kein Athener, sinte-
mal in Athen kein helot, sondern der Spartiate Kallibios harmost gewesen
ist, übrigens den Dreissig gegenüber alles andere eher als ihr herr, und
die tyrannen dreissig und nicht zehn gewesen sind.10) und wenn auch
das alles nicht da stünde: diese kritik des Reiches ist ausschliesslich
vom standpunkte der untertanen aus geschrieben, denen ein Athener,
und wenn er auch noch so oligarchisch war, nie nachempfinden konnte.
die meisten oligarchen von 411 gaben das reich mit nichten auf, die
Dreissig fanden es schon zertrümmert: ihr hass galt dem kataratos
demos zu hause.

Was wir also ermittelt haben, ist eine politische schmähschrift gegen
Athen für Sparta, etwa um 404 verfasst von einem oligarchischen Ionier
(im weiteren sinne des namens) aus einer ehemals unterworfenen stadt
(also nicht aus Chios; an Samos ist so wie so nicht zu denken), der
in eben dieser unter einem lakonischen harmosten eine blutige herr-
schaft geübt hat. der mann und die schrift waren dem publicum sehr
bekannt, für das Isokrates 380 schrieb, und die vorverhandlungen, die
zu der stiftung des neuen seebundes führten, haben sehr bedeutende
rücksicht auf ihn genommen. ich kann ihn nicht benennen und wüsste
nicht, wie ich ihn suchen sollte, halte aber nicht für ausgeschlossen,
dass jemand ihn finden kann, weil der anhaltspunkte nicht wenige sind.
dass die ionische publicistik in den zeiten der entscheidenden kämpfe
solche flugschriften hat erzeugen müssen, ist von vorn herein nach dem
stande des litterarischen lebens glaublich; aber diese schrift hat doch
die hohe bedeutung, dass sie die anschuldigungen der bundesstädte in
erschöpfender weise zusammengestellt und massgebend für die zukunft
formulirt hat. im Panegyrikos und Panathenaikos bekämpft sie Isokrates:
in der friedensrede sieht er selbst in der seeherrschaft das unheil (64),
da berührt er sich mit den gedanken des reichsfeindes, und wir würden
wol noch manche anklänge finden, wenn wir eine vergleichung anstellen
könnten: die bittersten vorwürfe hat er nur nicht vorzubringen gewagt
(81). Aristoteles, der sowol die demokratische entwickelung der athe-

10) Nach dem sturze der Dreissig, als Kritias und Charikles tot waren, sind
zwar zwei zehnercollegien eingesetzt, aber damals war das schlimmste schon ge-
schehen, und es hat die spätere zeit die zehn stets über die dreissig vergessen, nicht
umgekehrt.

Der gegner des Isokrates.
nicht scharf gesondert hat. er schlieſst sogar in einzelnen wendungen
die Athener mit ein, indem er in der ersten person des pluralis redet.
die hatten zwar schwer genug unter der reaction, eben durch die Dreiſsig,
zu leiden gehabt, aber der angegriffene schriftsteller war kein Athener, sinte-
mal in Athen kein helot, sondern der Spartiate Kallibios harmost gewesen
ist, übrigens den Dreiſsig gegenüber alles andere eher als ihr herr, und
die tyrannen dreiſsig und nicht zehn gewesen sind.10) und wenn auch
das alles nicht da stünde: diese kritik des Reiches ist ausschlieſslich
vom standpunkte der untertanen aus geschrieben, denen ein Athener,
und wenn er auch noch so oligarchisch war, nie nachempfinden konnte.
die meisten oligarchen von 411 gaben das reich mit nichten auf, die
Dreiſsig fanden es schon zertrümmert: ihr haſs galt dem κατάϱατος
δῆμος zu hause.

Was wir also ermittelt haben, ist eine politische schmähschrift gegen
Athen für Sparta, etwa um 404 verfaſst von einem oligarchischen Ionier
(im weiteren sinne des namens) aus einer ehemals unterworfenen stadt
(also nicht aus Chios; an Samos ist so wie so nicht zu denken), der
in eben dieser unter einem lakonischen harmosten eine blutige herr-
schaft geübt hat. der mann und die schrift waren dem publicum sehr
bekannt, für das Isokrates 380 schrieb, und die vorverhandlungen, die
zu der stiftung des neuen seebundes führten, haben sehr bedeutende
rücksicht auf ihn genommen. ich kann ihn nicht benennen und wüſste
nicht, wie ich ihn suchen sollte, halte aber nicht für ausgeschlossen,
daſs jemand ihn finden kann, weil der anhaltspunkte nicht wenige sind.
daſs die ionische publicistik in den zeiten der entscheidenden kämpfe
solche flugschriften hat erzeugen müssen, ist von vorn herein nach dem
stande des litterarischen lebens glaublich; aber diese schrift hat doch
die hohe bedeutung, daſs sie die anschuldigungen der bundesstädte in
erschöpfender weise zusammengestellt und maſsgebend für die zukunft
formulirt hat. im Panegyrikos und Panathenaikos bekämpft sie Isokrates:
in der friedensrede sieht er selbst in der seeherrschaft das unheil (64),
da berührt er sich mit den gedanken des reichsfeindes, und wir würden
wol noch manche anklänge finden, wenn wir eine vergleichung anstellen
könnten: die bittersten vorwürfe hat er nur nicht vorzubringen gewagt
(81). Aristoteles, der sowol die demokratische entwickelung der athe-

10) Nach dem sturze der Dreiſsig, als Kritias und Charikles tot waren, sind
zwar zwei zehnercollegien eingesetzt, aber damals war das schlimmste schon ge-
schehen, und es hat die spätere zeit die zehn stets über die dreiſsig vergessen, nicht
umgekehrt.
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[389/0399] Der gegner des Isokrates. nicht scharf gesondert hat. er schlieſst sogar in einzelnen wendungen die Athener mit ein, indem er in der ersten person des pluralis redet. die hatten zwar schwer genug unter der reaction, eben durch die Dreiſsig, zu leiden gehabt, aber der angegriffene schriftsteller war kein Athener, sinte- mal in Athen kein helot, sondern der Spartiate Kallibios harmost gewesen ist, übrigens den Dreiſsig gegenüber alles andere eher als ihr herr, und die tyrannen dreiſsig und nicht zehn gewesen sind. 10) und wenn auch das alles nicht da stünde: diese kritik des Reiches ist ausschlieſslich vom standpunkte der untertanen aus geschrieben, denen ein Athener, und wenn er auch noch so oligarchisch war, nie nachempfinden konnte. die meisten oligarchen von 411 gaben das reich mit nichten auf, die Dreiſsig fanden es schon zertrümmert: ihr haſs galt dem κατάϱατος δῆμος zu hause. Was wir also ermittelt haben, ist eine politische schmähschrift gegen Athen für Sparta, etwa um 404 verfaſst von einem oligarchischen Ionier (im weiteren sinne des namens) aus einer ehemals unterworfenen stadt (also nicht aus Chios; an Samos ist so wie so nicht zu denken), der in eben dieser unter einem lakonischen harmosten eine blutige herr- schaft geübt hat. der mann und die schrift waren dem publicum sehr bekannt, für das Isokrates 380 schrieb, und die vorverhandlungen, die zu der stiftung des neuen seebundes führten, haben sehr bedeutende rücksicht auf ihn genommen. ich kann ihn nicht benennen und wüſste nicht, wie ich ihn suchen sollte, halte aber nicht für ausgeschlossen, daſs jemand ihn finden kann, weil der anhaltspunkte nicht wenige sind. daſs die ionische publicistik in den zeiten der entscheidenden kämpfe solche flugschriften hat erzeugen müssen, ist von vorn herein nach dem stande des litterarischen lebens glaublich; aber diese schrift hat doch die hohe bedeutung, daſs sie die anschuldigungen der bundesstädte in erschöpfender weise zusammengestellt und maſsgebend für die zukunft formulirt hat. im Panegyrikos und Panathenaikos bekämpft sie Isokrates: in der friedensrede sieht er selbst in der seeherrschaft das unheil (64), da berührt er sich mit den gedanken des reichsfeindes, und wir würden wol noch manche anklänge finden, wenn wir eine vergleichung anstellen könnten: die bittersten vorwürfe hat er nur nicht vorzubringen gewagt (81). Aristoteles, der sowol die demokratische entwickelung der athe- 10) Nach dem sturze der Dreiſsig, als Kritias und Charikles tot waren, sind zwar zwei zehnercollegien eingesetzt, aber damals war das schlimmste schon ge- schehen, und es hat die spätere zeit die zehn stets über die dreiſsig vergessen, nicht umgekehrt.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/399>, abgerufen am 23.04.2024.