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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 10. Die paragraphe und Lysias gegen Pankleon.
deres gesetz durchbrachte, durch welches eine paragraphe mit berufung
auf die amnestie in jedem falle zugelassen ward: also war das sonst
nicht nötig, sondern stand im belieben des gerichtsherrn; und ferner
der ursprünglich angeklagte, der als paragrapsamenos kläger geworden
war, das erste wort haben sollte: also war das, trotzdem es die logik
fordert, noch nicht allgemeiner gebrauch.

Einen beleg hierfür liefert die rede des Lysias wider Pankleon. sie
ist in einer paragraphe gehalten, wenn auch nicht einmal dieser ter-
minus, sondern der allgemeine antigraphe gebraucht wird, und es fällt
kein wort über den gegenstand der eigentlichen klage. trotzdem hat
der ursprüngliche kläger das erste wort. aber vollständig ist die rede:
am schlusse sollen die richter abstimmen, natürlich, ob die klage selbst
zulässig sei. wir sehen aber auch das besondere, dass der redner sorg-
fältig die wasseruhr jedesmal zumachen lässt, ehe er einen zeugen auf-
ruft, was sonst bei Lysias nicht vorkommt: offenbar hatte er wenig
wasser, weil diese vorfrage erst von der eigentlichen abgetrennt wor-
den war.

Noch altertümlichere verhältnisse zeigt die rede Antiphons über die
ermordung des Herodes. der sprecher, Euxitheos3), ist als kakourgos vor
die elf geschleppt und bestreitet auf das nachdrücklichste die zuständig-
keit dieser processform; er hebt hervor, obwol er auf die sache selbst
tief eingeht, dass man ihn aus diesem formellen grunde freisprechen
sollte, er könnte dann ja immer noch vor den zuständigen richter ge-
zogen werden. damals also war die paragraphe als besonderes rechts-
mittel noch nicht im gebrauch, wenn auch das gericht aus formellen grün-
den freisprechen konnte. es leuchtet aber ein, dass eine verhandlung, wie
sie hier vorliegt, die gefahr brachte, dass die richter trotz allen formellen
bedenken materiell entschieden, und wenn Euxitheos hier freikam, ein
so starkes praejudiz vorlag, dass der kläger es schwerlich von neuem
vor dem Palladion versucht haben wird. ein fall, wo ein die paragraphe
begründender einspruch nicht als besondere klage, sondern ebenso wie

3) Es ist eine schöne entdeckung von Bohlmann, dass Sopater dem sprecher
diesen namen gibt (Walz Rhet. IV 316), eben wo er diese rede als probe der para-
graphe benutzt, und dass dann unsere hypothesis der rede jünger als Sopater ist,
macht nichts dagegen aus. dass die überschriften der reden namen erhalten haben,
selbst die so wenig zuverlässigen des Lysias den des Mantitheos 16, oder doch zu
Libanius zeit erhalten hatten, ist notorisch. aber etwas ängstlich macht mich, dass
Euxitheos auch als name des sprechers wider Eubulides eben nur von Libanius ge-
nannt wird, und sehr mytilenaeisch klingt der name nicht.
v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 24

III. 10. Die παϱαγϱαφὴ und Lysias gegen Pankleon.
deres gesetz durchbrachte, durch welches eine παϱαγϱαφή mit berufung
auf die amnestie in jedem falle zugelassen ward: also war das sonst
nicht nötig, sondern stand im belieben des gerichtsherrn; und ferner
der ursprünglich angeklagte, der als παϱαγϱαψάμενος kläger geworden
war, das erste wort haben sollte: also war das, trotzdem es die logik
fordert, noch nicht allgemeiner gebrauch.

Einen beleg hierfür liefert die rede des Lysias wider Pankleon. sie
ist in einer παϱαγϱαφή gehalten, wenn auch nicht einmal dieser ter-
minus, sondern der allgemeine ἀντιγϱαφή gebraucht wird, und es fällt
kein wort über den gegenstand der eigentlichen klage. trotzdem hat
der ursprüngliche kläger das erste wort. aber vollständig ist die rede:
am schlusse sollen die richter abstimmen, natürlich, ob die klage selbst
zulässig sei. wir sehen aber auch das besondere, daſs der redner sorg-
fältig die wasseruhr jedesmal zumachen läſst, ehe er einen zeugen auf-
ruft, was sonst bei Lysias nicht vorkommt: offenbar hatte er wenig
wasser, weil diese vorfrage erst von der eigentlichen abgetrennt wor-
den war.

Noch altertümlichere verhältnisse zeigt die rede Antiphons über die
ermordung des Herodes. der sprecher, Euxitheos3), ist als κακοῦϱγος vor
die elf geschleppt und bestreitet auf das nachdrücklichste die zuständig-
keit dieser proceſsform; er hebt hervor, obwol er auf die sache selbst
tief eingeht, daſs man ihn aus diesem formellen grunde freisprechen
sollte, er könnte dann ja immer noch vor den zuständigen richter ge-
zogen werden. damals also war die παϱαγϱαφή als besonderes rechts-
mittel noch nicht im gebrauch, wenn auch das gericht aus formellen grün-
den freisprechen konnte. es leuchtet aber ein, daſs eine verhandlung, wie
sie hier vorliegt, die gefahr brachte, daſs die richter trotz allen formellen
bedenken materiell entschieden, und wenn Euxitheos hier freikam, ein
so starkes praejudiz vorlag, daſs der kläger es schwerlich von neuem
vor dem Palladion versucht haben wird. ein fall, wo ein die παϱαγϱαφή
begründender einspruch nicht als besondere klage, sondern ebenso wie

3) Es ist eine schöne entdeckung von Bohlmann, daſs Sopater dem sprecher
diesen namen gibt (Walz Rhet. IV 316), eben wo er diese rede als probe der παϱα-
γϱαφή benutzt, und daſs dann unsere hypothesis der rede jünger als Sopater ist,
macht nichts dagegen aus. daſs die überschriften der reden namen erhalten haben,
selbst die so wenig zuverlässigen des Lysias den des Mantitheos 16, oder doch zu
Libanius zeit erhalten hatten, ist notorisch. aber etwas ängstlich macht mich, daſs
Euxitheos auch als name des sprechers wider Eubulides eben nur von Libanius ge-
nannt wird, und sehr mytilenaeisch klingt der name nicht.
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[369/0379] III. 10. Die παϱαγϱαφὴ und Lysias gegen Pankleon. deres gesetz durchbrachte, durch welches eine παϱαγϱαφή mit berufung auf die amnestie in jedem falle zugelassen ward: also war das sonst nicht nötig, sondern stand im belieben des gerichtsherrn; und ferner der ursprünglich angeklagte, der als παϱαγϱαψάμενος kläger geworden war, das erste wort haben sollte: also war das, trotzdem es die logik fordert, noch nicht allgemeiner gebrauch. Einen beleg hierfür liefert die rede des Lysias wider Pankleon. sie ist in einer παϱαγϱαφή gehalten, wenn auch nicht einmal dieser ter- minus, sondern der allgemeine ἀντιγϱαφή gebraucht wird, und es fällt kein wort über den gegenstand der eigentlichen klage. trotzdem hat der ursprüngliche kläger das erste wort. aber vollständig ist die rede: am schlusse sollen die richter abstimmen, natürlich, ob die klage selbst zulässig sei. wir sehen aber auch das besondere, daſs der redner sorg- fältig die wasseruhr jedesmal zumachen läſst, ehe er einen zeugen auf- ruft, was sonst bei Lysias nicht vorkommt: offenbar hatte er wenig wasser, weil diese vorfrage erst von der eigentlichen abgetrennt wor- den war. Noch altertümlichere verhältnisse zeigt die rede Antiphons über die ermordung des Herodes. der sprecher, Euxitheos 3), ist als κακοῦϱγος vor die elf geschleppt und bestreitet auf das nachdrücklichste die zuständig- keit dieser proceſsform; er hebt hervor, obwol er auf die sache selbst tief eingeht, daſs man ihn aus diesem formellen grunde freisprechen sollte, er könnte dann ja immer noch vor den zuständigen richter ge- zogen werden. damals also war die παϱαγϱαφή als besonderes rechts- mittel noch nicht im gebrauch, wenn auch das gericht aus formellen grün- den freisprechen konnte. es leuchtet aber ein, daſs eine verhandlung, wie sie hier vorliegt, die gefahr brachte, daſs die richter trotz allen formellen bedenken materiell entschieden, und wenn Euxitheos hier freikam, ein so starkes praejudiz vorlag, daſs der kläger es schwerlich von neuem vor dem Palladion versucht haben wird. ein fall, wo ein die παϱαγϱαφή begründender einspruch nicht als besondere klage, sondern ebenso wie 3) Es ist eine schöne entdeckung von Bohlmann, daſs Sopater dem sprecher diesen namen gibt (Walz Rhet. IV 316), eben wo er diese rede als probe der παϱα- γϱαφή benutzt, und daſs dann unsere hypothesis der rede jünger als Sopater ist, macht nichts dagegen aus. daſs die überschriften der reden namen erhalten haben, selbst die so wenig zuverlässigen des Lysias den des Mantitheos 16, oder doch zu Libanius zeit erhalten hatten, ist notorisch. aber etwas ängstlich macht mich, daſs Euxitheos auch als name des sprechers wider Eubulides eben nur von Libanius ge- nannt wird, und sehr mytilenaeisch klingt der name nicht. v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 24

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/379>, abgerufen am 16.04.2024.