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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 8. Die zeit der Thesmophoriazusen.
der verzweifelten lage des sommers 411 brachten. das erzwingt nichts,
darf aber nicht unbeachtet bleiben. dass Kleophon, der für uns 410
zuerst hervortritt, dem Aristophanes schon 411 widerlich sein konnte (805),
wird man nicht bezweifeln. es wäre nicht hübsch, wenn Aristophanes
die mutter des Hyperbolos 410 in weissem festgewande eingeführt hätte
(840), da der sohn im sommer 411 kläglich umgekommen war (Th. 8, 42);
aber vielleicht war Aristophanes so unzart. "Charminos hat durch die
tat bewiesen, dass er schlechter als Nausimakhe ist (804)." es ist kaum
denkbar, dass er, der für uns nach seiner strategie 412/11 verschwindet,
in der er in den ersten zwei monaten 411 eine schlappe mit einer
flottenabteilung erlitt, von Aristophanes 410 gegeisselt worden wäre, als
nicht bloss Nausimakhe, sondern Nausinike dank Thrasyllos und Alki-
biades bei den attischen schiffen war. eine anspielung auf ein bestimmtes
factum enthält noch 811 "eine frau tut so etwas nie, dass sie erst sum-
men von 50 talenten aus dem staatsschatze stiehlt und dann noch mit
einem maultiergespanne auf die burg fährt". das factum kann ich nicht
aufzeigen, denn das erkennungszeichen der stolzen fahrt, das für das
publikum am deutlichsten gewesen sein wird, hilft uns nichts. aber
vielleicht kennen wir den dieb.

Unter dem archon Glaukippos und zwar schon von der ersten pry-
tanie an, juli 410, war der staat darauf angewiesen, seine bedürfnisse
durch anleihen bei der göttin zu befriedigen; aber auch diese besass
keinen schatz mehr, sondern musste ihre laufenden einnahmen sofort
zur verfügung stellen (CIA I 188). aus dem schatze der göttin hatten
die 400 rücksichtslos ihre bedürfnisse befriedigt und ende Hekatombaion
411 auf einen streich über 77 talente entnommen (CIA IV p. 162). die
zeiten, wo jemand posten von 50 talenten auch nur zu gesichte bekam,
waren jetzt vorüber. es ist nicht sehr vertrauenerweckend, dass die
verlegung der Thesmophoriazusen auf das frühjahr 410 diebstähle von
solchen summen in eine zeit rückt, für die sie eine arge übertreibung
sind, weil es gar nicht mehr so viel zu stehlen gab. ein jahr früher
ist dagegen die gelegenheit durch eine bedeutende finanzoperation ge-
geben gewesen und benutzt worden. auf die nachricht, dass Alkibiades
Chios zum abfalle bewogen hätte und in Ionien weiter griff, hatte das
volk im frühjahr 412 beschlossen, den reservefonds von 1000 talenten
anzugreifen (Thuk. 8, 15). zahlungen aus demselben begegnen in der
rechnung aus der ersten prytanie des Kallias, Hekatombaion 412 (CIA
I 184), und Philochoros muss durch die menge von solchen zahlungen
in diesem jahre dazu verleitet worden sein, im widerspruche zu Thuky-

III. 8. Die zeit der Thesmophoriazusen.
der verzweifelten lage des sommers 411 brachten. das erzwingt nichts,
darf aber nicht unbeachtet bleiben. daſs Kleophon, der für uns 410
zuerst hervortritt, dem Aristophanes schon 411 widerlich sein konnte (805),
wird man nicht bezweifeln. es wäre nicht hübsch, wenn Aristophanes
die mutter des Hyperbolos 410 in weiſsem festgewande eingeführt hätte
(840), da der sohn im sommer 411 kläglich umgekommen war (Th. 8, 42);
aber vielleicht war Aristophanes so unzart. “Charminos hat durch die
tat bewiesen, daſs er schlechter als Ναυσιμάχη ist (804).” es ist kaum
denkbar, daſs er, der für uns nach seiner strategie 412/11 verschwindet,
in der er in den ersten zwei monaten 411 eine schlappe mit einer
flottenabteilung erlitt, von Aristophanes 410 gegeiſselt worden wäre, als
nicht bloſs Ναυσιμάχη, sondern Ναυσινίκη dank Thrasyllos und Alki-
biades bei den attischen schiffen war. eine anspielung auf ein bestimmtes
factum enthält noch 811 “eine frau tut so etwas nie, daſs sie erst sum-
men von 50 talenten aus dem staatsschatze stiehlt und dann noch mit
einem maultiergespanne auf die burg fährt”. das factum kann ich nicht
aufzeigen, denn das erkennungszeichen der stolzen fahrt, das für das
publikum am deutlichsten gewesen sein wird, hilft uns nichts. aber
vielleicht kennen wir den dieb.

Unter dem archon Glaukippos und zwar schon von der ersten pry-
tanie an, juli 410, war der staat darauf angewiesen, seine bedürfnisse
durch anleihen bei der göttin zu befriedigen; aber auch diese besaſs
keinen schatz mehr, sondern muſste ihre laufenden einnahmen sofort
zur verfügung stellen (CIA I 188). aus dem schatze der göttin hatten
die 400 rücksichtslos ihre bedürfnisse befriedigt und ende Hekatombaion
411 auf einen streich über 77 talente entnommen (CIA IV p. 162). die
zeiten, wo jemand posten von 50 talenten auch nur zu gesichte bekam,
waren jetzt vorüber. es ist nicht sehr vertrauenerweckend, daſs die
verlegung der Thesmophoriazusen auf das frühjahr 410 diebstähle von
solchen summen in eine zeit rückt, für die sie eine arge übertreibung
sind, weil es gar nicht mehr so viel zu stehlen gab. ein jahr früher
ist dagegen die gelegenheit durch eine bedeutende finanzoperation ge-
geben gewesen und benutzt worden. auf die nachricht, daſs Alkibiades
Chios zum abfalle bewogen hätte und in Ionien weiter griff, hatte das
volk im frühjahr 412 beschlossen, den reservefonds von 1000 talenten
anzugreifen (Thuk. 8, 15). zahlungen aus demselben begegnen in der
rechnung aus der ersten prytanie des Kallias, Hekatombaion 412 (CIA
I 184), und Philochoros muſs durch die menge von solchen zahlungen
in diesem jahre dazu verleitet worden sein, im widerspruche zu Thuky-

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[346/0356] III. 8. Die zeit der Thesmophoriazusen. der verzweifelten lage des sommers 411 brachten. das erzwingt nichts, darf aber nicht unbeachtet bleiben. daſs Kleophon, der für uns 410 zuerst hervortritt, dem Aristophanes schon 411 widerlich sein konnte (805), wird man nicht bezweifeln. es wäre nicht hübsch, wenn Aristophanes die mutter des Hyperbolos 410 in weiſsem festgewande eingeführt hätte (840), da der sohn im sommer 411 kläglich umgekommen war (Th. 8, 42); aber vielleicht war Aristophanes so unzart. “Charminos hat durch die tat bewiesen, daſs er schlechter als Ναυσιμάχη ist (804).” es ist kaum denkbar, daſs er, der für uns nach seiner strategie 412/11 verschwindet, in der er in den ersten zwei monaten 411 eine schlappe mit einer flottenabteilung erlitt, von Aristophanes 410 gegeiſselt worden wäre, als nicht bloſs Ναυσιμάχη, sondern Ναυσινίκη dank Thrasyllos und Alki- biades bei den attischen schiffen war. eine anspielung auf ein bestimmtes factum enthält noch 811 “eine frau tut so etwas nie, daſs sie erst sum- men von 50 talenten aus dem staatsschatze stiehlt und dann noch mit einem maultiergespanne auf die burg fährt”. das factum kann ich nicht aufzeigen, denn das erkennungszeichen der stolzen fahrt, das für das publikum am deutlichsten gewesen sein wird, hilft uns nichts. aber vielleicht kennen wir den dieb. Unter dem archon Glaukippos und zwar schon von der ersten pry- tanie an, juli 410, war der staat darauf angewiesen, seine bedürfnisse durch anleihen bei der göttin zu befriedigen; aber auch diese besaſs keinen schatz mehr, sondern muſste ihre laufenden einnahmen sofort zur verfügung stellen (CIA I 188). aus dem schatze der göttin hatten die 400 rücksichtslos ihre bedürfnisse befriedigt und ende Hekatombaion 411 auf einen streich über 77 talente entnommen (CIA IV p. 162). die zeiten, wo jemand posten von 50 talenten auch nur zu gesichte bekam, waren jetzt vorüber. es ist nicht sehr vertrauenerweckend, daſs die verlegung der Thesmophoriazusen auf das frühjahr 410 diebstähle von solchen summen in eine zeit rückt, für die sie eine arge übertreibung sind, weil es gar nicht mehr so viel zu stehlen gab. ein jahr früher ist dagegen die gelegenheit durch eine bedeutende finanzoperation ge- geben gewesen und benutzt worden. auf die nachricht, daſs Alkibiades Chios zum abfalle bewogen hätte und in Ionien weiter griff, hatte das volk im frühjahr 412 beschlossen, den reservefonds von 1000 talenten anzugreifen (Thuk. 8, 15). zahlungen aus demselben begegnen in der rechnung aus der ersten prytanie des Kallias, Hekatombaion 412 (CIA I 184), und Philochoros muſs durch die menge von solchen zahlungen in diesem jahre dazu verleitet worden sein, im widerspruche zu Thuky-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/356>, abgerufen am 19.04.2024.