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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Sparta. Kreta.
und Aristoteles.25) es ist bezeichnender weise hier wirklich fast nur die
politeia, um die sich alles dreht, von der geschichte erfahren wir kaum
etwas: denn Lykurgos und Theopompos kommen eben für die verfassung
in betracht. erst im dritten jahrhundert hat Sosibios26) seines vater-
landes altertümer in sehr dankenswerter weise erläutert und auch die
geschichte zu ordnen versucht. aber die fehlende geschichtliche über-
lieferung vermochte der gelehrte sammler nicht mehr zu ergänzen. ich
wenigstens betrachte selbst die königsliste als ein unzuverlässiges ge-
mächte auf grund der herodoteischen genealogien.

Noch sehr viel mehr als Sparta hatte Kreta die fühlung mit derKreta
hellenischen cultur verloren. die insel, welche weder das attische Reich
noch die lakonische vorherrschaft in ihre kreise gezogen hatten, war von
der tyrannis und der demokratie, von der ionischen und sicilischen auf-
klärung verschont geblieben; Platon wusste, dass die Kreter noch um 360
den Homer kaum kannten. sie hatten aber auch keine eigene poesie,
wenigstens keine, die den Hellenen bekannt oder verständlich war.27) man

25) Hellanikos hatte als Lesbier an seinem landsmanne Terpandros ein beson-
deres interesse und hat wol die verantwortung der hohen schätzung desselben zu
tragen, in der ihn die neueren noch weit übertreffen. diese haben sich nicht klar
gemacht, dass so ziemlich alles was sie von ihm hören auf combination beruht.
seine verse sind schon im altertum athetirt, über seine musikalischen compositionen,
die allein der berufene nomos angeht, können wir nicht urteilen, weder was seine ur-
heberschaft noch was seine verdienste angeht. die diadokhe der musiker kann gar
keinen höheren wert beanspruchen als die der dichter oder philosophen. seine poli-
tische tätigkeit ist erweislich fabel. was bleibt?
26) Ich kann noch eben den irrtum berichtigen, dass der Lakone Sosibios mit
dem lytiker identisch gewesen wäre, dank Wachsmuth (de Erat. Apoll. Sosibio
Leipzig 93). aber ihn für jünger als Eratosthenes zu halten, ist mir unmöglich.
nach der losreissung der Eleutherolakonen, in dem verfallenen Sparta nach Nabis
scheint er mir undenkbar, und ich vermag auch keinen zwang in Wachsmuths wahr-
scheinlichkeitsbeweisen zu sehen. Sosibios passt vielmehr vortrefflich in die zeit
des Kleomenes. dagegen stimme ich in der beurteilung des sosibischen gutes bei
Pausanias mit Wachsmuth überein, denke eher noch etwas skeptischer, namentlich
über die ersten capitel des dritten buches. directe benutzung wird er selbst nicht
annehmen.
27) Dieser mangel an contact mit der hellenischen cultur genügt allein dazu, dass
man in dem verfasser der Theogonie des Epimenides nicht einen wirklichen Kreter suche.
den kretischen Zeus, den sie verherrlichte, hatte doch Hesiodos auf dem Helikon
schon gekannt, und die figur des propheten sammt der fiction, die das gedicht zu-
sammenhielt, ist nach Kreta versetzt eben um des Zeus willen; übrigens stellen
barbarische gegenden, wie Akarnanien und Epeiros gerne die seher. Karnos (dessen
name nichts als der eponymos der Akarnanen ist) war ja auch ein seher.

Sparta. Kreta.
und Aristoteles.25) es ist bezeichnender weise hier wirklich fast nur die
πολιτεία, um die sich alles dreht, von der geschichte erfahren wir kaum
etwas: denn Lykurgos und Theopompos kommen eben für die verfassung
in betracht. erst im dritten jahrhundert hat Sosibios26) seines vater-
landes altertümer in sehr dankenswerter weise erläutert und auch die
geschichte zu ordnen versucht. aber die fehlende geschichtliche über-
lieferung vermochte der gelehrte sammler nicht mehr zu ergänzen. ich
wenigstens betrachte selbst die königsliste als ein unzuverläſsiges ge-
mächte auf grund der herodoteischen genealogien.

Noch sehr viel mehr als Sparta hatte Kreta die fühlung mit derKreta
hellenischen cultur verloren. die insel, welche weder das attische Reich
noch die lakonische vorherrschaft in ihre kreise gezogen hatten, war von
der tyrannis und der demokratie, von der ionischen und sicilischen auf-
klärung verschont geblieben; Platon wuſste, daſs die Kreter noch um 360
den Homer kaum kannten. sie hatten aber auch keine eigene poesie,
wenigstens keine, die den Hellenen bekannt oder verständlich war.27) man

25) Hellanikos hatte als Lesbier an seinem landsmanne Terpandros ein beson-
deres interesse und hat wol die verantwortung der hohen schätzung desselben zu
tragen, in der ihn die neueren noch weit übertreffen. diese haben sich nicht klar
gemacht, daſs so ziemlich alles was sie von ihm hören auf combination beruht.
seine verse sind schon im altertum athetirt, über seine musikalischen compositionen,
die allein der berufene νόμος angeht, können wir nicht urteilen, weder was seine ur-
heberschaft noch was seine verdienste angeht. die διαδοχή der musiker kann gar
keinen höheren wert beanspruchen als die der dichter oder philosophen. seine poli-
tische tätigkeit ist erweislich fabel. was bleibt?
26) Ich kann noch eben den irrtum berichtigen, daſs der Lakone Sosibios mit
dem lytiker identisch gewesen wäre, dank Wachsmuth (de Erat. Apoll. Sosibio
Leipzig 93). aber ihn für jünger als Eratosthenes zu halten, ist mir unmöglich.
nach der losreiſsung der Eleutherolakonen, in dem verfallenen Sparta nach Nabis
scheint er mir undenkbar, und ich vermag auch keinen zwang in Wachsmuths wahr-
scheinlichkeitsbeweisen zu sehen. Sosibios paſst vielmehr vortrefflich in die zeit
des Kleomenes. dagegen stimme ich in der beurteilung des sosibischen gutes bei
Pausanias mit Wachsmuth überein, denke eher noch etwas skeptischer, namentlich
über die ersten capitel des dritten buches. directe benutzung wird er selbst nicht
annehmen.
27) Dieser mangel an contact mit der hellenischen cultur genügt allein dazu, daſs
man in dem verfasser der Theogonie des Epimenides nicht einen wirklichen Kreter suche.
den kretischen Zeus, den sie verherrlichte, hatte doch Hesiodos auf dem Helikon
schon gekannt, und die figur des propheten sammt der fiction, die das gedicht zu-
sammenhielt, ist nach Kreta versetzt eben um des Zeus willen; übrigens stellen
barbarische gegenden, wie Akarnanien und Epeiros gerne die seher. Karnos (dessen
name nichts als der eponymos der Akarnanen ist) war ja auch ein seher.
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[25/0035] Sparta. Kreta. und Aristoteles. 25) es ist bezeichnender weise hier wirklich fast nur die πολιτεία, um die sich alles dreht, von der geschichte erfahren wir kaum etwas: denn Lykurgos und Theopompos kommen eben für die verfassung in betracht. erst im dritten jahrhundert hat Sosibios 26) seines vater- landes altertümer in sehr dankenswerter weise erläutert und auch die geschichte zu ordnen versucht. aber die fehlende geschichtliche über- lieferung vermochte der gelehrte sammler nicht mehr zu ergänzen. ich wenigstens betrachte selbst die königsliste als ein unzuverläſsiges ge- mächte auf grund der herodoteischen genealogien. Noch sehr viel mehr als Sparta hatte Kreta die fühlung mit der hellenischen cultur verloren. die insel, welche weder das attische Reich noch die lakonische vorherrschaft in ihre kreise gezogen hatten, war von der tyrannis und der demokratie, von der ionischen und sicilischen auf- klärung verschont geblieben; Platon wuſste, daſs die Kreter noch um 360 den Homer kaum kannten. sie hatten aber auch keine eigene poesie, wenigstens keine, die den Hellenen bekannt oder verständlich war. 27) man Kreta 25) Hellanikos hatte als Lesbier an seinem landsmanne Terpandros ein beson- deres interesse und hat wol die verantwortung der hohen schätzung desselben zu tragen, in der ihn die neueren noch weit übertreffen. diese haben sich nicht klar gemacht, daſs so ziemlich alles was sie von ihm hören auf combination beruht. seine verse sind schon im altertum athetirt, über seine musikalischen compositionen, die allein der berufene νόμος angeht, können wir nicht urteilen, weder was seine ur- heberschaft noch was seine verdienste angeht. die διαδοχή der musiker kann gar keinen höheren wert beanspruchen als die der dichter oder philosophen. seine poli- tische tätigkeit ist erweislich fabel. was bleibt? 26) Ich kann noch eben den irrtum berichtigen, daſs der Lakone Sosibios mit dem lytiker identisch gewesen wäre, dank Wachsmuth (de Erat. Apoll. Sosibio Leipzig 93). aber ihn für jünger als Eratosthenes zu halten, ist mir unmöglich. nach der losreiſsung der Eleutherolakonen, in dem verfallenen Sparta nach Nabis scheint er mir undenkbar, und ich vermag auch keinen zwang in Wachsmuths wahr- scheinlichkeitsbeweisen zu sehen. Sosibios paſst vielmehr vortrefflich in die zeit des Kleomenes. dagegen stimme ich in der beurteilung des sosibischen gutes bei Pausanias mit Wachsmuth überein, denke eher noch etwas skeptischer, namentlich über die ersten capitel des dritten buches. directe benutzung wird er selbst nicht annehmen. 27) Dieser mangel an contact mit der hellenischen cultur genügt allein dazu, daſs man in dem verfasser der Theogonie des Epimenides nicht einen wirklichen Kreter suche. den kretischen Zeus, den sie verherrlichte, hatte doch Hesiodos auf dem Helikon schon gekannt, und die figur des propheten sammt der fiction, die das gedicht zu- sammenhielt, ist nach Kreta versetzt eben um des Zeus willen; übrigens stellen barbarische gegenden, wie Akarnanien und Epeiros gerne die seher. Karnos (dessen name nichts als der eponymos der Akarnanen ist) war ja auch ein seher.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/35>, abgerufen am 23.04.2024.