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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 7. Der process der Eumeniden.
durch den gegensatz verdeutlicht. was Athena eingesetzt hat ist nichts
als der richterrat, als der Areopag, der 458 zu rechte bestand und immer
bestanden hat.

Athena warnt sehr nachdrücklich davor, durch neue schlechte ge-
setze das gefühl der scheu im volke zu vertilgen, die achtung vor dem
Areopage zu zerstören und die rechte mittelstrasse zwischen anarchie
und knechtschaft zu verlassen. ob 458 eine strömung bestand, dem
Areopag auch noch seine letzten richterlichen aufgaben zu entziehen,
wissen wir nicht. aber dass anarchie oder zuchtlosigkeit an diesem
gerichte gehangen hätte, kann man schwerlich behaupten. worauf
zielt also der dichter mit seinen worten, die ihm heiliger ernst sind?
gegen die reform des Ephialtes hat er nichts; ob er sie empfohlen haben
würde, stehe dahin, aber er stellt sich durchaus auf den boden des
gesetzes. die antwort ist nicht auf dem gebiete des staatsrechtes zu
Die rolle
der Erinyen.
suchen, sondern auf dem der religion. Aischylos ist kein politiker,
sondern ein dichter, ein religiöser lehrer seines volkes, darum liegt ihm
an den obliegenheiten des Areopagitenrates nichts, an den Eumeniden
alles. sie sollen trotz allen reformen und trotz aller demokratie die
furchtbaren zugleich und die gnädigen bleiben. wo er das aus sich
direct aussprechen kann, ist die wirkung eine reine; hier aber dürfen
wir ein gewisses misverhältnis nicht beschönigen, daraus entstanden,
dass der Areopag als gerichtshof weder jenes für das sittliche gedeihen
des volkes notwendige deinon mehr ist, noch ein eruma soterion Athens.
die kritik ist berechtigt, allein sie wird uns das grossartige document
athenischer und aischyleischer religiosität nicht trüben, und vor allen
dingen dürfen wir nicht das gedicht misdeuten, um mehr in ihm zu
finden.

Dafür hat der dichter selbst gesorgt. was Athena 696--702 ihren
bürgern ans herz legt ist genau dasselbe was die Erinyen 516 ffg. ge-
fordert haben. esth opou to deinon eu -- met anarkton bion mete
despotoumenon aineses; panti meso to kratos theos opasen. das
singen die göttinnen vor dem processe, im anschlusse an ihre forderung,
dass der muttermörder strafe leide. es ist schlechterdings nichts anderes
als dieser eine rechtshandel in frage, an dessen entscheidung die ganze
sittliche weltordnung hängen soll. wenn das hier möglich ist, ist es
das auch in Athenas rede, und darf man die verfassungsänderung des
Ephialtes nicht hineinziehen. das sichert die erklärung von Athenas
rede, aber es verschiebt zunächst nur die eigentliche lösung der schwierig-
keit. also noch einen schritt weiter.


III. 7. Der proceſs der Eumeniden.
durch den gegensatz verdeutlicht. was Athena eingesetzt hat ist nichts
als der richterrat, als der Areopag, der 458 zu rechte bestand und immer
bestanden hat.

Athena warnt sehr nachdrücklich davor, durch neue schlechte ge-
setze das gefühl der scheu im volke zu vertilgen, die achtung vor dem
Areopage zu zerstören und die rechte mittelstraſse zwischen anarchie
und knechtschaft zu verlassen. ob 458 eine strömung bestand, dem
Areopag auch noch seine letzten richterlichen aufgaben zu entziehen,
wissen wir nicht. aber daſs anarchie oder zuchtlosigkeit an diesem
gerichte gehangen hätte, kann man schwerlich behaupten. worauf
zielt also der dichter mit seinen worten, die ihm heiliger ernst sind?
gegen die reform des Ephialtes hat er nichts; ob er sie empfohlen haben
würde, stehe dahin, aber er stellt sich durchaus auf den boden des
gesetzes. die antwort ist nicht auf dem gebiete des staatsrechtes zu
Die rolle
der Erinyen.
suchen, sondern auf dem der religion. Aischylos ist kein politiker,
sondern ein dichter, ein religiöser lehrer seines volkes, darum liegt ihm
an den obliegenheiten des Areopagitenrates nichts, an den Eumeniden
alles. sie sollen trotz allen reformen und trotz aller demokratie die
furchtbaren zugleich und die gnädigen bleiben. wo er das aus sich
direct aussprechen kann, ist die wirkung eine reine; hier aber dürfen
wir ein gewiſses misverhältnis nicht beschönigen, daraus entstanden,
daſs der Areopag als gerichtshof weder jenes für das sittliche gedeihen
des volkes notwendige δεινόν mehr ist, noch ein ἔϱυμα σωτήϱιον Athens.
die kritik ist berechtigt, allein sie wird uns das groſsartige document
athenischer und aischyleischer religiosität nicht trüben, und vor allen
dingen dürfen wir nicht das gedicht misdeuten, um mehr in ihm zu
finden.

Dafür hat der dichter selbst gesorgt. was Athena 696—702 ihren
bürgern ans herz legt ist genau dasselbe was die Erinyen 516 ffg. ge-
fordert haben. ἔσϑ̕ ὅπου τὸ δεινὸν εὖ — μήτ̕ ἄναϱκτον βίον μήτε
δεσποτούμενον αἰνέσῃς· παντὶ μέσῳ τὸ κϱάτος ϑεὸς ὤπασεν. das
singen die göttinnen vor dem processe, im anschlusse an ihre forderung,
daſs der muttermörder strafe leide. es ist schlechterdings nichts anderes
als dieser eine rechtshandel in frage, an dessen entscheidung die ganze
sittliche weltordnung hängen soll. wenn das hier möglich ist, ist es
das auch in Athenas rede, und darf man die verfassungsänderung des
Ephialtes nicht hineinziehen. das sichert die erklärung von Athenas
rede, aber es verschiebt zunächst nur die eigentliche lösung der schwierig-
keit. also noch einen schritt weiter.


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[338/0348] III. 7. Der proceſs der Eumeniden. durch den gegensatz verdeutlicht. was Athena eingesetzt hat ist nichts als der richterrat, als der Areopag, der 458 zu rechte bestand und immer bestanden hat. Athena warnt sehr nachdrücklich davor, durch neue schlechte ge- setze das gefühl der scheu im volke zu vertilgen, die achtung vor dem Areopage zu zerstören und die rechte mittelstraſse zwischen anarchie und knechtschaft zu verlassen. ob 458 eine strömung bestand, dem Areopag auch noch seine letzten richterlichen aufgaben zu entziehen, wissen wir nicht. aber daſs anarchie oder zuchtlosigkeit an diesem gerichte gehangen hätte, kann man schwerlich behaupten. worauf zielt also der dichter mit seinen worten, die ihm heiliger ernst sind? gegen die reform des Ephialtes hat er nichts; ob er sie empfohlen haben würde, stehe dahin, aber er stellt sich durchaus auf den boden des gesetzes. die antwort ist nicht auf dem gebiete des staatsrechtes zu suchen, sondern auf dem der religion. Aischylos ist kein politiker, sondern ein dichter, ein religiöser lehrer seines volkes, darum liegt ihm an den obliegenheiten des Areopagitenrates nichts, an den Eumeniden alles. sie sollen trotz allen reformen und trotz aller demokratie die furchtbaren zugleich und die gnädigen bleiben. wo er das aus sich direct aussprechen kann, ist die wirkung eine reine; hier aber dürfen wir ein gewiſses misverhältnis nicht beschönigen, daraus entstanden, daſs der Areopag als gerichtshof weder jenes für das sittliche gedeihen des volkes notwendige δεινόν mehr ist, noch ein ἔϱυμα σωτήϱιον Athens. die kritik ist berechtigt, allein sie wird uns das groſsartige document athenischer und aischyleischer religiosität nicht trüben, und vor allen dingen dürfen wir nicht das gedicht misdeuten, um mehr in ihm zu finden. Die rolle der Erinyen. Dafür hat der dichter selbst gesorgt. was Athena 696—702 ihren bürgern ans herz legt ist genau dasselbe was die Erinyen 516 ffg. ge- fordert haben. ἔσϑ̕ ὅπου τὸ δεινὸν εὖ — μήτ̕ ἄναϱκτον βίον μήτε δεσποτούμενον αἰνέσῃς· παντὶ μέσῳ τὸ κϱάτος ϑεὸς ὤπασεν. das singen die göttinnen vor dem processe, im anschlusse an ihre forderung, daſs der muttermörder strafe leide. es ist schlechterdings nichts anderes als dieser eine rechtshandel in frage, an dessen entscheidung die ganze sittliche weltordnung hängen soll. wenn das hier möglich ist, ist es das auch in Athenas rede, und darf man die verfassungsänderung des Ephialtes nicht hineinziehen. das sichert die erklärung von Athenas rede, aber es verschiebt zunächst nur die eigentliche lösung der schwierig- keit. also noch einen schritt weiter.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/348>, abgerufen am 28.03.2024.