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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 4. Die solonischen gedichte.
(22). aber an das publikum im ganzen wandte er sich verständiger-
massen nicht mit ihr. die steifleinene theorie, die von upothekai eis
eauton redet, können wir auf sich beruhen lassen: wir sind nicht im
stande zu wissen, wie die sammler im altertum die gedichte geordnet
haben, und brauchen ihnen die verkehrtheit nicht zuzutrauen, die ord-
nung nach den versmassen mit einer nach sachlichen kategorien ver-
mischt zu haben, wie Bergk beliebt hat. die selbstansprache ist keine
kunstform. wie es Solon gehalten hat, lehrt die berühmteste und schönste
und zum glück vollständig erhaltene elegie (13): er hat die einkleidung
eines gebetes an die Muse gewählt. damit ist nichts anderes bezeichnet,
als dass er seine gedanken in einem gedichte ausspricht. aber die helle-
nische poesie verlangt nun einmal feste form: und so ist hier die an-
rede für die elegie gewahrt. jenes wunderbare gedicht, in dem der
fromme des lebens und des strebens summe zieht, will ich hier nicht
erläutern. das würde zu viel worte fordern, denn es ist nicht leicht,
falls man mehr als einzelne disticha verstehen will. dem modernen aber
wird es sauer, von allem rhetorischen disponiren abzusehen, auch von
allen den künsten der Kallimachos und Properz und Ovid, und sich
zutraulich vor die knie des alten zu setzen und seiner Muse zu lauschen,
die ihn nach greisenart bald hierhin, bald dahin lockt, aber immer
wieder in die bahn zurückführt, die ihm die alles beherrschende empfin-
dung weist. "mensch, lerne, dass es mit unserer macht nicht getan ist,
und dass der gott, der deine geschicke lenkt, wie es ihn beliebt, einmal
abrechnung hält: mensch, lerne dich bescheiden." zum verständnis des
baues hilft Tibull, der an der ächten elegie gelernt hat; bequemer noch
hilft Goethe.

Unbestimm-
bare
trümmer.
Nur noch einige wenige beziehungslose verse (12. 14. 16. 17.
23. 25) und die reste eines iambischen gedichtes (38--41), in dem
das getriebe eines marktes mit allerhand erzeugnissen auch ferner küsten
geschildert ward, sind übrig. ausserdem eine sehr hübsche, bereits dem
Aristoteles (Pol. H 1335b) bekannte elegie, eigentlich nur ein merkvers,
über die zehn hebdomaden des menschenlebens, den hervorragende ge-
lehrte von Porson bis Usener12) dem Solon absprechen. er hat nichts

12) Altgr. Versb. 52. seine schlussfolgerung ist mir gänzlich unverständlich.
die verbindung pas tis findet sich, wenn wir eine stelle bei Theognis erst geändert
haben, immer noch einmal bei Theognis, wo sie Usener wieder beseitigen will, bei
Aischylos Pindar und Herodotos, ausserdem in dieser elegie. die aber wäre nicht
solonisch. ja, was soll ich aus diesem tatbestande anders folgern, als das pas tis
seit 480 in keinem gebiete der poesie anstössig ist, also vorher mindestens in der

III. 4. Die solonischen gedichte.
(22). aber an das publikum im ganzen wandte er sich verständiger-
maſsen nicht mit ihr. die steifleinene theorie, die von ὑποϑῆκαι εἰς
ἑαυτὸν redet, können wir auf sich beruhen lassen: wir sind nicht im
stande zu wissen, wie die sammler im altertum die gedichte geordnet
haben, und brauchen ihnen die verkehrtheit nicht zuzutrauen, die ord-
nung nach den versmaſsen mit einer nach sachlichen kategorien ver-
mischt zu haben, wie Bergk beliebt hat. die selbstansprache ist keine
kunstform. wie es Solon gehalten hat, lehrt die berühmteste und schönste
und zum glück vollständig erhaltene elegie (13): er hat die einkleidung
eines gebetes an die Muse gewählt. damit ist nichts anderes bezeichnet,
als daſs er seine gedanken in einem gedichte ausspricht. aber die helle-
nische poesie verlangt nun einmal feste form: und so ist hier die an-
rede für die elegie gewahrt. jenes wunderbare gedicht, in dem der
fromme des lebens und des strebens summe zieht, will ich hier nicht
erläutern. das würde zu viel worte fordern, denn es ist nicht leicht,
falls man mehr als einzelne disticha verstehen will. dem modernen aber
wird es sauer, von allem rhetorischen disponiren abzusehen, auch von
allen den künsten der Kallimachos und Properz und Ovid, und sich
zutraulich vor die knie des alten zu setzen und seiner Muse zu lauschen,
die ihn nach greisenart bald hierhin, bald dahin lockt, aber immer
wieder in die bahn zurückführt, die ihm die alles beherrschende empfin-
dung weist. “mensch, lerne, daſs es mit unserer macht nicht getan ist,
und daſs der gott, der deine geschicke lenkt, wie es ihn beliebt, einmal
abrechnung hält: mensch, lerne dich bescheiden.” zum verständnis des
baues hilft Tibull, der an der ächten elegie gelernt hat; bequemer noch
hilft Goethe.

Unbestimm-
bare
trümmer.
Nur noch einige wenige beziehungslose verse (12. 14. 16. 17.
23. 25) und die reste eines iambischen gedichtes (38—41), in dem
das getriebe eines marktes mit allerhand erzeugnissen auch ferner küsten
geschildert ward, sind übrig. auſserdem eine sehr hübsche, bereits dem
Aristoteles (Pol. H 1335b) bekannte elegie, eigentlich nur ein merkvers,
über die zehn hebdomaden des menschenlebens, den hervorragende ge-
lehrte von Porson bis Usener12) dem Solon absprechen. er hat nichts

12) Altgr. Versb. 52. seine schluſsfolgerung ist mir gänzlich unverständlich.
die verbindung πᾶς τις findet sich, wenn wir eine stelle bei Theognis erst geändert
haben, immer noch einmal bei Theognis, wo sie Usener wieder beseitigen will, bei
Aischylos Pindar und Herodotos, auſserdem in dieser elegie. die aber wäre nicht
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[314/0324] III. 4. Die solonischen gedichte. (22). aber an das publikum im ganzen wandte er sich verständiger- maſsen nicht mit ihr. die steifleinene theorie, die von ὑποϑῆκαι εἰς ἑαυτὸν redet, können wir auf sich beruhen lassen: wir sind nicht im stande zu wissen, wie die sammler im altertum die gedichte geordnet haben, und brauchen ihnen die verkehrtheit nicht zuzutrauen, die ord- nung nach den versmaſsen mit einer nach sachlichen kategorien ver- mischt zu haben, wie Bergk beliebt hat. die selbstansprache ist keine kunstform. wie es Solon gehalten hat, lehrt die berühmteste und schönste und zum glück vollständig erhaltene elegie (13): er hat die einkleidung eines gebetes an die Muse gewählt. damit ist nichts anderes bezeichnet, als daſs er seine gedanken in einem gedichte ausspricht. aber die helle- nische poesie verlangt nun einmal feste form: und so ist hier die an- rede für die elegie gewahrt. jenes wunderbare gedicht, in dem der fromme des lebens und des strebens summe zieht, will ich hier nicht erläutern. das würde zu viel worte fordern, denn es ist nicht leicht, falls man mehr als einzelne disticha verstehen will. dem modernen aber wird es sauer, von allem rhetorischen disponiren abzusehen, auch von allen den künsten der Kallimachos und Properz und Ovid, und sich zutraulich vor die knie des alten zu setzen und seiner Muse zu lauschen, die ihn nach greisenart bald hierhin, bald dahin lockt, aber immer wieder in die bahn zurückführt, die ihm die alles beherrschende empfin- dung weist. “mensch, lerne, daſs es mit unserer macht nicht getan ist, und daſs der gott, der deine geschicke lenkt, wie es ihn beliebt, einmal abrechnung hält: mensch, lerne dich bescheiden.” zum verständnis des baues hilft Tibull, der an der ächten elegie gelernt hat; bequemer noch hilft Goethe. Nur noch einige wenige beziehungslose verse (12. 14. 16. 17. 23. 25) und die reste eines iambischen gedichtes (38—41), in dem das getriebe eines marktes mit allerhand erzeugnissen auch ferner küsten geschildert ward, sind übrig. auſserdem eine sehr hübsche, bereits dem Aristoteles (Pol. H 1335b) bekannte elegie, eigentlich nur ein merkvers, über die zehn hebdomaden des menschenlebens, den hervorragende ge- lehrte von Porson bis Usener 12) dem Solon absprechen. er hat nichts Unbestimm- bare trümmer. 12) Altgr. Versb. 52. seine schluſsfolgerung ist mir gänzlich unverständlich. die verbindung πᾶς τις findet sich, wenn wir eine stelle bei Theognis erst geändert haben, immer noch einmal bei Theognis, wo sie Usener wieder beseitigen will, bei Aischylos Pindar und Herodotos, auſserdem in dieser elegie. die aber wäre nicht solonisch. ja, was soll ich aus diesem tatbestande anders folgern, als das πᾶς τις seit 480 in keinem gebiete der poesie anstöſsig ist, also vorher mindestens in der

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/324>, abgerufen am 19.04.2024.