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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 4. Die solonischen gedichte.
immer die sorgfältige behandlung erfahren hat, die es in dem demosthe-
nischen texte finden musste. es hat also einmal ein grammatiker die
von Demosthenes deutlich bezeichnete solonische stelle nachgeschlagen
und von dem verse, den er so fand, ausgehend den rest der elegie ein-
getragen. wir haben grund dem manne zu danken, gerade weil er nicht
sehr überlegt verfahren ist, denn er hat viel mehr ausgeschrieben, als
der redner verlesen liess. dieser leitet sein citat also ein "verlies mir
hier diese elegie, damit ihr seht, wie sehr Solon solche menschen wie
diesen Aischines gehasst hat". und nach der verlesung sagt er "hört ihr,
was Solon von solchen menschen sagt, und von den göttern, die die
stadt beschützen". solche menschen, das sind menschen, die für geld
alles tun, insbesondere den ruin ihrer vaterstadt herbeiführen, oder viel-
mehr herbeiführen würden, wenn die götter nicht über Athen wachten.
somit ist deutlich genug bezeichnet, dass Demosthenes den ersten teil
der einlage verlesen liess, die wir jetzt vor uns haben "nach gottes willen
wird Athen nicht zu grunde gehen; dafür sorgt Athena; aber die bürger
wollen in ihrem unverstande den staat zu grunde richten3), und nament-
lich die führer des volkes, die in ihrem jagen nach unredlichem gewinne
keine schranke kennen. aber einmal kommt allerdings auch für sie die
strafende vergeltung (1--16)". gerade diese letzte prophezeiung musste
dem ankläger sehr zu pass kommen, aber es kann davon keine rede
sein, dass er auch nur einen vers weiter citirt hätte, am wenigsten den
schluss, der die segnungen eines wolgeordneten verfassungsstaates breit
ausmalt.

Wenn wir nun den gedanken dieser elegie weiter nachgehn, so
folgt auf den ersten abschnitt, worin die strafe für die frevel der hab-
gierigen volksführer bestehn wird. "das ist eine unvermeidliche krank-
heit für jede stadt, dass sie in knechtschaft gerät, so sie bürgerzwist
und bürgerkrieg aufrührt, in dem die blüte der jugend erliegt. denn
die feinde (d. h. die inneren feinde des staatswesens und der ordnung)
zerstören sie gar bald in ihren verderblichen zusammenrottungen."4)

weib und kind zu verkaufen, denn das steht bei Plutarch unmittelbar danach und
bei Aristoteles 2.
3) Wenn es jetzt heisst, dass die bürger in ihrem unverstande den staat zer-
stören khremasi peithomenoi, so ist dieser pentameterschluss ein übles füllsel: die
bürger sind nicht bestochen, und sie haben auch davon keinen vorteil, dass das
gemeinwesen zu grunde geht, im gegenteil, Solon sagt ja, dass sie es aus unver-
stand tun; vorteil habe allein die demou egemones. ergänzen kann man die lücke
um so weniger, als man nicht weiss, ob sie auf den pentameterschluss beschränkt war.
4) Dass dies der sinn der verse ist, deren gedanken in der für die alte elegie be-

III. 4. Die solonischen gedichte.
immer die sorgfältige behandlung erfahren hat, die es in dem demosthe-
nischen texte finden muſste. es hat also einmal ein grammatiker die
von Demosthenes deutlich bezeichnete solonische stelle nachgeschlagen
und von dem verse, den er so fand, ausgehend den rest der elegie ein-
getragen. wir haben grund dem manne zu danken, gerade weil er nicht
sehr überlegt verfahren ist, denn er hat viel mehr ausgeschrieben, als
der redner verlesen lieſs. dieser leitet sein citat also ein “verlies mir
hier diese elegie, damit ihr seht, wie sehr Solon solche menschen wie
diesen Aischines gehaſst hat”. und nach der verlesung sagt er “hört ihr,
was Solon von solchen menschen sagt, und von den göttern, die die
stadt beschützen”. solche menschen, das sind menschen, die für geld
alles tun, insbesondere den ruin ihrer vaterstadt herbeiführen, oder viel-
mehr herbeiführen würden, wenn die götter nicht über Athen wachten.
somit ist deutlich genug bezeichnet, daſs Demosthenes den ersten teil
der einlage verlesen lieſs, die wir jetzt vor uns haben “nach gottes willen
wird Athen nicht zu grunde gehen; dafür sorgt Athena; aber die bürger
wollen in ihrem unverstande den staat zu grunde richten3), und nament-
lich die führer des volkes, die in ihrem jagen nach unredlichem gewinne
keine schranke kennen. aber einmal kommt allerdings auch für sie die
strafende vergeltung (1—16)”. gerade diese letzte prophezeiung muſste
dem ankläger sehr zu paſs kommen, aber es kann davon keine rede
sein, daſs er auch nur einen vers weiter citirt hätte, am wenigsten den
schluſs, der die segnungen eines wolgeordneten verfassungsstaates breit
ausmalt.

Wenn wir nun den gedanken dieser elegie weiter nachgehn, so
folgt auf den ersten abschnitt, worin die strafe für die frevel der hab-
gierigen volksführer bestehn wird. “das ist eine unvermeidliche krank-
heit für jede stadt, daſs sie in knechtschaft gerät, so sie bürgerzwist
und bürgerkrieg aufrührt, in dem die blüte der jugend erliegt. denn
die feinde (d. h. die inneren feinde des staatswesens und der ordnung)
zerstören sie gar bald in ihren verderblichen zusammenrottungen.”4)

weib und kind zu verkaufen, denn das steht bei Plutarch unmittelbar danach und
bei Aristoteles 2.
3) Wenn es jetzt heiſst, daſs die bürger in ihrem unverstande den staat zer-
stören χϱήμασι πειϑόμενοι, so ist dieser pentameterschluſs ein übles füllsel: die
bürger sind nicht bestochen, und sie haben auch davon keinen vorteil, daſs das
gemeinwesen zu grunde geht, im gegenteil, Solon sagt ja, daſs sie es aus unver-
stand tun; vorteil habe allein die δήμου ἡγεμόνες. ergänzen kann man die lücke
um so weniger, als man nicht weiſs, ob sie auf den pentameterschluſs beschränkt war.
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[306/0316] III. 4. Die solonischen gedichte. immer die sorgfältige behandlung erfahren hat, die es in dem demosthe- nischen texte finden muſste. es hat also einmal ein grammatiker die von Demosthenes deutlich bezeichnete solonische stelle nachgeschlagen und von dem verse, den er so fand, ausgehend den rest der elegie ein- getragen. wir haben grund dem manne zu danken, gerade weil er nicht sehr überlegt verfahren ist, denn er hat viel mehr ausgeschrieben, als der redner verlesen lieſs. dieser leitet sein citat also ein “verlies mir hier diese elegie, damit ihr seht, wie sehr Solon solche menschen wie diesen Aischines gehaſst hat”. und nach der verlesung sagt er “hört ihr, was Solon von solchen menschen sagt, und von den göttern, die die stadt beschützen”. solche menschen, das sind menschen, die für geld alles tun, insbesondere den ruin ihrer vaterstadt herbeiführen, oder viel- mehr herbeiführen würden, wenn die götter nicht über Athen wachten. somit ist deutlich genug bezeichnet, daſs Demosthenes den ersten teil der einlage verlesen lieſs, die wir jetzt vor uns haben “nach gottes willen wird Athen nicht zu grunde gehen; dafür sorgt Athena; aber die bürger wollen in ihrem unverstande den staat zu grunde richten 3), und nament- lich die führer des volkes, die in ihrem jagen nach unredlichem gewinne keine schranke kennen. aber einmal kommt allerdings auch für sie die strafende vergeltung (1—16)”. gerade diese letzte prophezeiung muſste dem ankläger sehr zu paſs kommen, aber es kann davon keine rede sein, daſs er auch nur einen vers weiter citirt hätte, am wenigsten den schluſs, der die segnungen eines wolgeordneten verfassungsstaates breit ausmalt. Wenn wir nun den gedanken dieser elegie weiter nachgehn, so folgt auf den ersten abschnitt, worin die strafe für die frevel der hab- gierigen volksführer bestehn wird. “das ist eine unvermeidliche krank- heit für jede stadt, daſs sie in knechtschaft gerät, so sie bürgerzwist und bürgerkrieg aufrührt, in dem die blüte der jugend erliegt. denn die feinde (d. h. die inneren feinde des staatswesens und der ordnung) zerstören sie gar bald in ihren verderblichen zusammenrottungen.” 4) 2) 3) Wenn es jetzt heiſst, daſs die bürger in ihrem unverstande den staat zer- stören χϱήμασι πειϑόμενοι, so ist dieser pentameterschluſs ein übles füllsel: die bürger sind nicht bestochen, und sie haben auch davon keinen vorteil, daſs das gemeinwesen zu grunde geht, im gegenteil, Solon sagt ja, daſs sie es aus unver- stand tun; vorteil habe allein die δήμου ἡγεμόνες. ergänzen kann man die lücke um so weniger, als man nicht weiſs, ob sie auf den pentameterschluſs beschränkt war. 4) Daſs dies der sinn der verse ist, deren gedanken in der für die alte elegie be- 2) weib und kind zu verkaufen, denn das steht bei Plutarch unmittelbar danach und bei Aristoteles 2.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/316>, abgerufen am 19.04.2024.