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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Der erste bericht des Herodotos.
dorische wäre ächthellenisch, und wenn die frauen gleichwol nicht zu
der mode der unförmlichen spangen zurückgekehrt sind, so motivirt man
das mit einem verbote wegen der gefährlichkeit dieser instrumente. von
der erzählte man viel. Oidipus hatte sich mit der spange Iokastes ge-
blendet (Soph. O. T. 1269), und die Troerinnen hatten es mit Polymestor
ebenso gemacht (Eur. Hek. 1170): die tragiker lehren uns, zu welcher
zeit diese beurteilung der dorischen spange gegolten hat; die unanstän-
digkeit des dorischen frauenkleides, das die schenkel den blicken darbot,
weil kein hemde darunter sass, berührt schon Anakreon. was war nun das
opfer der attischen frauen, dessen ermordung das verbot der dorischen tracht
mit den spangen hervorrief? das lässt sich nicht a priori bestimmen, das
konnte so oder so gedichtet werden. da lernen wir, dass es der unheilsbote
gewesen ist, der von Aegina als einzig überlebender die kunde eines grossen
unheils brachte. wie die Athener erzählen, sagt Herodot, war ein schiff
hinüber gefahren um die beiden bilder aus attischem olivenholz zu holen.
die mannschaft war bei dem gotteslästerlichen unterfangen von plötz-
lichem wahnsinn befallen, und bis auf den einen hatten sie sich alle gegen-
seitig umgebracht. dem stellt er den aeginetischen bericht gegenüber
und zwar so, dass er ihn als berichtigung des attischen gegeben annimmt,
selbst aber wieder das wunderbare aus ihm zu streichen bemüht ist.
nach diesem berichte ist eine attische flotte mit gewalt nach Aegina ge-
kommen, gegen die haben die Aegineten hilfe von Argos gerufen, diese
ist unbemerkt gelandet, hat die Athener von ihren schiffen abgeschnitten
und hat sie niedergemacht bis auf einen. das ist ganz offenbar ein durch-
aus nicht novellistischer oder aetiologischer bericht, sondern ein geschicht-
licher. ich habe nur das novellistisch aetiologische fortgelassen. das
besteht in der tempellegende, dass die bilder sich nicht wegrücken liessen,
und als man sie mit seilen wegzuziehen versuchte, in die knie fielen,
und darin dass gewitter und erdbeben den untergang der Athener be-
gleiteten. diesen bericht hat Herodot offenbar so eingeholt, dass er den
Aegineten die attische erzählung vorlegte. wenn die Athener selbst sagten,
sie hätten die bilder rauben wollen und wären alle bis auf einen um-
gekommen, so hatten jene keinen grund zu widersprechen. was die
bilder anlangte, so verfügten sie über eine andere aetiologische geschichte,
die gar nicht damit zusammenhieng, aber sich gut damit vertrug. dass
die attische die erinnerung an eine schwere niederlage, nicht an den
verlust eines schiffes, festhielt, sagten die Aegineten; wir könnten es uns
auch selbst sagen, da die genesis der ganzen fehde ohne diese voraus-
setzung unbegreiflich ist. es ist aber schlechthin nicht abzusehen, wes-

Der erste bericht des Herodotos.
dorische wäre ächthellenisch, und wenn die frauen gleichwol nicht zu
der mode der unförmlichen spangen zurückgekehrt sind, so motivirt man
das mit einem verbote wegen der gefährlichkeit dieser instrumente. von
der erzählte man viel. Oidipus hatte sich mit der spange Iokastes ge-
blendet (Soph. O. T. 1269), und die Troerinnen hatten es mit Polymestor
ebenso gemacht (Eur. Hek. 1170): die tragiker lehren uns, zu welcher
zeit diese beurteilung der dorischen spange gegolten hat; die unanstän-
digkeit des dorischen frauenkleides, das die schenkel den blicken darbot,
weil kein hemde darunter saſs, berührt schon Anakreon. was war nun das
opfer der attischen frauen, dessen ermordung das verbot der dorischen tracht
mit den spangen hervorrief? das läſst sich nicht a priori bestimmen, das
konnte so oder so gedichtet werden. da lernen wir, daſs es der unheilsbote
gewesen ist, der von Aegina als einzig überlebender die kunde eines groſsen
unheils brachte. wie die Athener erzählen, sagt Herodot, war ein schiff
hinüber gefahren um die beiden bilder aus attischem olivenholz zu holen.
die mannschaft war bei dem gotteslästerlichen unterfangen von plötz-
lichem wahnsinn befallen, und bis auf den einen hatten sie sich alle gegen-
seitig umgebracht. dem stellt er den aeginetischen bericht gegenüber
und zwar so, daſs er ihn als berichtigung des attischen gegeben annimmt,
selbst aber wieder das wunderbare aus ihm zu streichen bemüht ist.
nach diesem berichte ist eine attische flotte mit gewalt nach Aegina ge-
kommen, gegen die haben die Aegineten hilfe von Argos gerufen, diese
ist unbemerkt gelandet, hat die Athener von ihren schiffen abgeschnitten
und hat sie niedergemacht bis auf einen. das ist ganz offenbar ein durch-
aus nicht novellistischer oder aetiologischer bericht, sondern ein geschicht-
licher. ich habe nur das novellistisch aetiologische fortgelassen. das
besteht in der tempellegende, daſs die bilder sich nicht wegrücken lieſsen,
und als man sie mit seilen wegzuziehen versuchte, in die knie fielen,
und darin daſs gewitter und erdbeben den untergang der Athener be-
gleiteten. diesen bericht hat Herodot offenbar so eingeholt, daſs er den
Aegineten die attische erzählung vorlegte. wenn die Athener selbst sagten,
sie hätten die bilder rauben wollen und wären alle bis auf einen um-
gekommen, so hatten jene keinen grund zu widersprechen. was die
bilder anlangte, so verfügten sie über eine andere aetiologische geschichte,
die gar nicht damit zusammenhieng, aber sich gut damit vertrug. daſs
die attische die erinnerung an eine schwere niederlage, nicht an den
verlust eines schiffes, festhielt, sagten die Aegineten; wir könnten es uns
auch selbst sagen, da die genesis der ganzen fehde ohne diese voraus-
setzung unbegreiflich ist. es ist aber schlechthin nicht abzusehen, wes-

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[283/0293] Der erste bericht des Herodotos. dorische wäre ächthellenisch, und wenn die frauen gleichwol nicht zu der mode der unförmlichen spangen zurückgekehrt sind, so motivirt man das mit einem verbote wegen der gefährlichkeit dieser instrumente. von der erzählte man viel. Oidipus hatte sich mit der spange Iokastes ge- blendet (Soph. O. T. 1269), und die Troerinnen hatten es mit Polymestor ebenso gemacht (Eur. Hek. 1170): die tragiker lehren uns, zu welcher zeit diese beurteilung der dorischen spange gegolten hat; die unanstän- digkeit des dorischen frauenkleides, das die schenkel den blicken darbot, weil kein hemde darunter saſs, berührt schon Anakreon. was war nun das opfer der attischen frauen, dessen ermordung das verbot der dorischen tracht mit den spangen hervorrief? das läſst sich nicht a priori bestimmen, das konnte so oder so gedichtet werden. da lernen wir, daſs es der unheilsbote gewesen ist, der von Aegina als einzig überlebender die kunde eines groſsen unheils brachte. wie die Athener erzählen, sagt Herodot, war ein schiff hinüber gefahren um die beiden bilder aus attischem olivenholz zu holen. die mannschaft war bei dem gotteslästerlichen unterfangen von plötz- lichem wahnsinn befallen, und bis auf den einen hatten sie sich alle gegen- seitig umgebracht. dem stellt er den aeginetischen bericht gegenüber und zwar so, daſs er ihn als berichtigung des attischen gegeben annimmt, selbst aber wieder das wunderbare aus ihm zu streichen bemüht ist. nach diesem berichte ist eine attische flotte mit gewalt nach Aegina ge- kommen, gegen die haben die Aegineten hilfe von Argos gerufen, diese ist unbemerkt gelandet, hat die Athener von ihren schiffen abgeschnitten und hat sie niedergemacht bis auf einen. das ist ganz offenbar ein durch- aus nicht novellistischer oder aetiologischer bericht, sondern ein geschicht- licher. ich habe nur das novellistisch aetiologische fortgelassen. das besteht in der tempellegende, daſs die bilder sich nicht wegrücken lieſsen, und als man sie mit seilen wegzuziehen versuchte, in die knie fielen, und darin daſs gewitter und erdbeben den untergang der Athener be- gleiteten. diesen bericht hat Herodot offenbar so eingeholt, daſs er den Aegineten die attische erzählung vorlegte. wenn die Athener selbst sagten, sie hätten die bilder rauben wollen und wären alle bis auf einen um- gekommen, so hatten jene keinen grund zu widersprechen. was die bilder anlangte, so verfügten sie über eine andere aetiologische geschichte, die gar nicht damit zusammenhieng, aber sich gut damit vertrug. daſs die attische die erinnerung an eine schwere niederlage, nicht an den verlust eines schiffes, festhielt, sagten die Aegineten; wir könnten es uns auch selbst sagen, da die genesis der ganzen fehde ohne diese voraus- setzung unbegreiflich ist. es ist aber schlechthin nicht abzusehen, wes-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/293>, abgerufen am 29.03.2024.