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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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III. 1. Die phratrie der Demotioniden.
schon allein die formel der bürgerbriefe einai ton deina phules kai
demou kai phratrias on an bouletai. in dieser liegt aber auch sofort,
dass zwischen der localen gliederung der gemeinden und der quasigenti-
licischen der bruderschaften ein notwendiger zusammenhang besteht,
denn der neubürger wählt sich nicht dreierlei, sondern indem er sich
eines wählt, die gemeinde, die sein bürgerrecht erst effectiv macht, sind
die übergeordneten gemeinschaften gegeben. andererseits ist mit der
aufnahme in die gemeinde der eintritt in die phyle ipso facto gegeben.
für die phratrie gilt das nicht, denn da bedarf es eines einführenden
bruders, einer aufnahmeceremonie und eines aufnahmebeschlusses. der
neubürger mag immerhin ein anrecht auf diese aufnahme von dem
volke erhalten haben, er muss doch erst noch schritte tun, um anschluss
an eine cultgenossenschaft und einen bruder, der ihn einführt, zu finden.
er hat aber von dieser aufnahme weiter nichts, als dass er gewisser sacra
teilhaftig wird und die Apaturien mitfeiern kann. weder rechtliche noch
pecuniäre vorteile stehen ihm in aussicht. er kann von der gemeinde
für alle ihre ämter gewählt, für die richter- und ratstellen präsentirt
werden, ganz ebenso von der phyle für die beamtenstellen des volkes,
und das volk nun gar hat zu den wahlämtern sogar sehr häufig neu-
bürger vorgezogen. nirgend ist die zugehörigkeit zu einer bruderschaft
erfordert. der volksbeschluss, der ihm sein bürgerrecht verlieh, war dem
neubürger und seinen nachkommen allerdings ein wichtiger adelsbrief,
den liess er meistens auf seine kosten in stein hauen und öffentlich aus-
stellen, wenn das nicht das volk schon seinem privileg zugefügt hatte. allein
die religiösen motive, die einem Athener vielleicht noch um 350 die
bruderschaft oder den thiasos wert machen mochten, existirten für den
neubürger nicht; für viele bürger schwanden sie auch, und so konnte es
gar nicht ausbleiben, dass ein immer grösserer bruchteil der bürger-
schaft factisch ohne bruderschaft lebte. wo keine greifbaren vorteile
und kein zwang vorhanden sind, wird der mensch einen mit kosten
und mühen verbundenen freiwilligen act sehr leicht unterlassen. so sind
die bruderschaften schon zu Philochoros zeiten antiquirt gewesen und
bald ganz in vergessenheit geraten. hätte man die diapsephisis von 346
ihnen statt den gemeinden anvertraut, so würde die bürgerschaft ver-
mutlich erheblich eingeschwunden sein: das phratriarkhikon grammateion
war schwerlich so unförmlich wie es hätte sein sollen. die geschlechter
aber haben sich lebensfähiger bewiesen als die phratrien.

Die diapsephisis des Isagoras 508 (oben I. 31) kann nur den
phratrien anvertraut gewesen sein: damals gab es noch keine gemeinden.

III. 1. Die phratrie der Demotioniden.
schon allein die formel der bürgerbriefe εἶναι τὸν δεῖνα φυλῆς καὶ
δήμου καὶ φϱατϱίας ὧν ἂν βούληται. in dieser liegt aber auch sofort,
daſs zwischen der localen gliederung der gemeinden und der quasigenti-
licischen der bruderschaften ein notwendiger zusammenhang besteht,
denn der neubürger wählt sich nicht dreierlei, sondern indem er sich
eines wählt, die gemeinde, die sein bürgerrecht erst effectiv macht, sind
die übergeordneten gemeinschaften gegeben. andererseits ist mit der
aufnahme in die gemeinde der eintritt in die phyle ipso facto gegeben.
für die phratrie gilt das nicht, denn da bedarf es eines einführenden
bruders, einer aufnahmeceremonie und eines aufnahmebeschlusses. der
neubürger mag immerhin ein anrecht auf diese aufnahme von dem
volke erhalten haben, er muſs doch erst noch schritte tun, um anschluſs
an eine cultgenossenschaft und einen bruder, der ihn einführt, zu finden.
er hat aber von dieser aufnahme weiter nichts, als daſs er gewisser sacra
teilhaftig wird und die Apaturien mitfeiern kann. weder rechtliche noch
pecuniäre vorteile stehen ihm in aussicht. er kann von der gemeinde
für alle ihre ämter gewählt, für die richter- und ratstellen präsentirt
werden, ganz ebenso von der phyle für die beamtenstellen des volkes,
und das volk nun gar hat zu den wahlämtern sogar sehr häufig neu-
bürger vorgezogen. nirgend ist die zugehörigkeit zu einer bruderschaft
erfordert. der volksbeschluſs, der ihm sein bürgerrecht verlieh, war dem
neubürger und seinen nachkommen allerdings ein wichtiger adelsbrief,
den lieſs er meistens auf seine kosten in stein hauen und öffentlich aus-
stellen, wenn das nicht das volk schon seinem privileg zugefügt hatte. allein
die religiösen motive, die einem Athener vielleicht noch um 350 die
bruderschaft oder den thiasos wert machen mochten, existirten für den
neubürger nicht; für viele bürger schwanden sie auch, und so konnte es
gar nicht ausbleiben, daſs ein immer gröſserer bruchteil der bürger-
schaft factisch ohne bruderschaft lebte. wo keine greifbaren vorteile
und kein zwang vorhanden sind, wird der mensch einen mit kosten
und mühen verbundenen freiwilligen act sehr leicht unterlassen. so sind
die bruderschaften schon zu Philochoros zeiten antiquirt gewesen und
bald ganz in vergessenheit geraten. hätte man die διαψήφισις von 346
ihnen statt den gemeinden anvertraut, so würde die bürgerschaft ver-
mutlich erheblich eingeschwunden sein: das φϱατϱιαϱχικὸν γϱαμματεῖον
war schwerlich so unförmlich wie es hätte sein sollen. die geschlechter
aber haben sich lebensfähiger bewiesen als die phratrien.

Die διαψήφισις des Isagoras 508 (oben I. 31) kann nur den
phratrien anvertraut gewesen sein: damals gab es noch keine gemeinden.

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[276/0286] III. 1. Die phratrie der Demotioniden. schon allein die formel der bürgerbriefe εἶναι τὸν δεῖνα φυλῆς καὶ δήμου καὶ φϱατϱίας ὧν ἂν βούληται. in dieser liegt aber auch sofort, daſs zwischen der localen gliederung der gemeinden und der quasigenti- licischen der bruderschaften ein notwendiger zusammenhang besteht, denn der neubürger wählt sich nicht dreierlei, sondern indem er sich eines wählt, die gemeinde, die sein bürgerrecht erst effectiv macht, sind die übergeordneten gemeinschaften gegeben. andererseits ist mit der aufnahme in die gemeinde der eintritt in die phyle ipso facto gegeben. für die phratrie gilt das nicht, denn da bedarf es eines einführenden bruders, einer aufnahmeceremonie und eines aufnahmebeschlusses. der neubürger mag immerhin ein anrecht auf diese aufnahme von dem volke erhalten haben, er muſs doch erst noch schritte tun, um anschluſs an eine cultgenossenschaft und einen bruder, der ihn einführt, zu finden. er hat aber von dieser aufnahme weiter nichts, als daſs er gewisser sacra teilhaftig wird und die Apaturien mitfeiern kann. weder rechtliche noch pecuniäre vorteile stehen ihm in aussicht. er kann von der gemeinde für alle ihre ämter gewählt, für die richter- und ratstellen präsentirt werden, ganz ebenso von der phyle für die beamtenstellen des volkes, und das volk nun gar hat zu den wahlämtern sogar sehr häufig neu- bürger vorgezogen. nirgend ist die zugehörigkeit zu einer bruderschaft erfordert. der volksbeschluſs, der ihm sein bürgerrecht verlieh, war dem neubürger und seinen nachkommen allerdings ein wichtiger adelsbrief, den lieſs er meistens auf seine kosten in stein hauen und öffentlich aus- stellen, wenn das nicht das volk schon seinem privileg zugefügt hatte. allein die religiösen motive, die einem Athener vielleicht noch um 350 die bruderschaft oder den thiasos wert machen mochten, existirten für den neubürger nicht; für viele bürger schwanden sie auch, und so konnte es gar nicht ausbleiben, daſs ein immer gröſserer bruchteil der bürger- schaft factisch ohne bruderschaft lebte. wo keine greifbaren vorteile und kein zwang vorhanden sind, wird der mensch einen mit kosten und mühen verbundenen freiwilligen act sehr leicht unterlassen. so sind die bruderschaften schon zu Philochoros zeiten antiquirt gewesen und bald ganz in vergessenheit geraten. hätte man die διαψήφισις von 346 ihnen statt den gemeinden anvertraut, so würde die bürgerschaft ver- mutlich erheblich eingeschwunden sein: das φϱατϱιαϱχικὸν γϱαμματεῖον war schwerlich so unförmlich wie es hätte sein sollen. die geschlechter aber haben sich lebensfähiger bewiesen als die phratrien. Die διαψήφισις des Isagoras 508 (oben I. 31) kann nur den phratrien anvertraut gewesen sein: damals gab es noch keine gemeinden.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/286>, abgerufen am 29.03.2024.