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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Verfassung der anderen phratrien.
tioniden weiss nichts von ihnen allen, und es ist willkür, die thiasoten
mit den orgeonen, die Dekeleer mit den genneten gleichzusetzen, ja dies
letztere ist sogar falsch. sollen wir nun unserer urkunde zu liebe den
Philochoros preisgeben, oder aber dem Philochoros die urkunde, da es
doch mit den harmonistischen kunststücken nicht geht? keines von beiden.
das erste ist, dass wir uns selbst kein x für ein u machen, sondern die
wahrheit eingestehn: es stimmt nicht. das zweite ist, dass wir folgern,
was unumgänglich ist, wenn die zeugnisse neben einander bestehen sollen:
es war in den phratrien nicht immer und gleichzeitig nicht in allen
dieselbe ordnung. erst das dritte ist die erklärung dieser verschieden-
heit. aber auch diese lässt sich sofort sicher geben, seit Aristoteles wieder
da ist. er belehrt uns, dass schon zu Drakons zeit nicht mehr der
adel für das bürgerrecht bestimmend war, sondern das vermögen; Klei-
sthenes lässt denn auch die ganze ordnung von phratrien und priester-
tümern ruhig fortbestehn, obwol er den staat nur auf die gemeinden
gründet, und er knüpft das staatsbürgerrecht an das gemeindebürger-
recht ausschliesslich: so hat der staat an den phratrien jedes interesse
verloren. sie existiren dagegen ruhig fort. aber sie verändern sich doch.
nach bekanntem attischem rechte sind alle vom staate anerkannten ge-
nossenschaften berechtigt sich selbst ihre gesetze zu geben; das gilt von
den phratrien natürlich, und wie sehr es tatsächlich galt, lehrt die rück-
sichtslose neuerung des Nikodemos in der phratrie der Demotioniden.
gerade solche gemeinschaften, in denen die form den inhalt überdauert
hat, sind der willkür stark ausgesetzt. rudimente ältester ordnung con-
secrirt hier der fanatismus der altertümler, während dort die flache gleich-
macherei alles nach dem jeweiligen zeitgeschmacke modelt. uns sind die
phratrien, wie wir sie allein kennen, als opfer- und schmausgenossen-
schaften wenig interessant, aber nur durch sie können wir eine ahnung
von den bruderschaften des adelsstaates gewinnen. um 396 schon mögen
die zwölf phratrien zwölf verschiedene statuten gehabt oder erhalten
haben. hundert jahre später waren sie zum teil vielleicht schon ganz
verkümmert, interessirten jedenfalls nur noch den exegeten Philochoros;
aber wenn er sich über eine oder zwei informirte, wusste er mit nichten
das allgemein giltige noch das uralte gemeinsame.

Von der verwaltung der phratrien wissen wir nur etwas über die
Demotioniden und die Dyaleer (CIA 600), und sofort ist die verschieden-
heit da: jene haben einen, diese zwei phratriarchen. das ist ein unter-
schied, wie er zwischen gemeinden unerhört ist. greifbarer noch ist die
verschiedenheit im cultus. trotzdem, dass Zeus phratrios und Athena

Verfassung der anderen phratrien.
tioniden weiſs nichts von ihnen allen, und es ist willkür, die thiasoten
mit den orgeonen, die Dekeleer mit den genneten gleichzusetzen, ja dies
letztere ist sogar falsch. sollen wir nun unserer urkunde zu liebe den
Philochoros preisgeben, oder aber dem Philochoros die urkunde, da es
doch mit den harmonistischen kunststücken nicht geht? keines von beiden.
das erste ist, daſs wir uns selbst kein x für ein u machen, sondern die
wahrheit eingestehn: es stimmt nicht. das zweite ist, daſs wir folgern,
was unumgänglich ist, wenn die zeugnisse neben einander bestehen sollen:
es war in den phratrien nicht immer und gleichzeitig nicht in allen
dieselbe ordnung. erst das dritte ist die erklärung dieser verschieden-
heit. aber auch diese läſst sich sofort sicher geben, seit Aristoteles wieder
da ist. er belehrt uns, daſs schon zu Drakons zeit nicht mehr der
adel für das bürgerrecht bestimmend war, sondern das vermögen; Klei-
sthenes läſst denn auch die ganze ordnung von phratrien und priester-
tümern ruhig fortbestehn, obwol er den staat nur auf die gemeinden
gründet, und er knüpft das staatsbürgerrecht an das gemeindebürger-
recht ausschlieſslich: so hat der staat an den phratrien jedes interesse
verloren. sie existiren dagegen ruhig fort. aber sie verändern sich doch.
nach bekanntem attischem rechte sind alle vom staate anerkannten ge-
nossenschaften berechtigt sich selbst ihre gesetze zu geben; das gilt von
den phratrien natürlich, und wie sehr es tatsächlich galt, lehrt die rück-
sichtslose neuerung des Nikodemos in der phratrie der Demotioniden.
gerade solche gemeinschaften, in denen die form den inhalt überdauert
hat, sind der willkür stark ausgesetzt. rudimente ältester ordnung con-
secrirt hier der fanatismus der altertümler, während dort die flache gleich-
macherei alles nach dem jeweiligen zeitgeschmacke modelt. uns sind die
phratrien, wie wir sie allein kennen, als opfer- und schmausgenossen-
schaften wenig interessant, aber nur durch sie können wir eine ahnung
von den bruderschaften des adelsstaates gewinnen. um 396 schon mögen
die zwölf phratrien zwölf verschiedene statuten gehabt oder erhalten
haben. hundert jahre später waren sie zum teil vielleicht schon ganz
verkümmert, interessirten jedenfalls nur noch den exegeten Philochoros;
aber wenn er sich über eine oder zwei informirte, wuſste er mit nichten
das allgemein giltige noch das uralte gemeinsame.

Von der verwaltung der phratrien wissen wir nur etwas über die
Demotioniden und die Dyaleer (CIA 600), und sofort ist die verschieden-
heit da: jene haben einen, diese zwei phratriarchen. das ist ein unter-
schied, wie er zwischen gemeinden unerhört ist. greifbarer noch ist die
verschiedenheit im cultus. trotzdem, daſs Ζεὺς φϱάτϱιος und Ἀϑηνᾶ

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[267/0277] Verfassung der anderen phratrien. tioniden weiſs nichts von ihnen allen, und es ist willkür, die thiasoten mit den orgeonen, die Dekeleer mit den genneten gleichzusetzen, ja dies letztere ist sogar falsch. sollen wir nun unserer urkunde zu liebe den Philochoros preisgeben, oder aber dem Philochoros die urkunde, da es doch mit den harmonistischen kunststücken nicht geht? keines von beiden. das erste ist, daſs wir uns selbst kein x für ein u machen, sondern die wahrheit eingestehn: es stimmt nicht. das zweite ist, daſs wir folgern, was unumgänglich ist, wenn die zeugnisse neben einander bestehen sollen: es war in den phratrien nicht immer und gleichzeitig nicht in allen dieselbe ordnung. erst das dritte ist die erklärung dieser verschieden- heit. aber auch diese läſst sich sofort sicher geben, seit Aristoteles wieder da ist. er belehrt uns, daſs schon zu Drakons zeit nicht mehr der adel für das bürgerrecht bestimmend war, sondern das vermögen; Klei- sthenes läſst denn auch die ganze ordnung von phratrien und priester- tümern ruhig fortbestehn, obwol er den staat nur auf die gemeinden gründet, und er knüpft das staatsbürgerrecht an das gemeindebürger- recht ausschlieſslich: so hat der staat an den phratrien jedes interesse verloren. sie existiren dagegen ruhig fort. aber sie verändern sich doch. nach bekanntem attischem rechte sind alle vom staate anerkannten ge- nossenschaften berechtigt sich selbst ihre gesetze zu geben; das gilt von den phratrien natürlich, und wie sehr es tatsächlich galt, lehrt die rück- sichtslose neuerung des Nikodemos in der phratrie der Demotioniden. gerade solche gemeinschaften, in denen die form den inhalt überdauert hat, sind der willkür stark ausgesetzt. rudimente ältester ordnung con- secrirt hier der fanatismus der altertümler, während dort die flache gleich- macherei alles nach dem jeweiligen zeitgeschmacke modelt. uns sind die phratrien, wie wir sie allein kennen, als opfer- und schmausgenossen- schaften wenig interessant, aber nur durch sie können wir eine ahnung von den bruderschaften des adelsstaates gewinnen. um 396 schon mögen die zwölf phratrien zwölf verschiedene statuten gehabt oder erhalten haben. hundert jahre später waren sie zum teil vielleicht schon ganz verkümmert, interessirten jedenfalls nur noch den exegeten Philochoros; aber wenn er sich über eine oder zwei informirte, wuſste er mit nichten das allgemein giltige noch das uralte gemeinsame. Von der verwaltung der phratrien wissen wir nur etwas über die Demotioniden und die Dyaleer (CIA 600), und sofort ist die verschieden- heit da: jene haben einen, diese zwei phratriarchen. das ist ein unter- schied, wie er zwischen gemeinden unerhört ist. greifbarer noch ist die verschiedenheit im cultus. trotzdem, daſs Ζεὺς φϱάτϱιος und Ἀϑηνᾶ

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/277>, abgerufen am 25.04.2024.