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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Antrag des Phormisios.
aber schon der äussere umstand, dass die Dreissig den städtern ihre
waffen confiscirt hatten (37, 1), liess das nicht angängig erscheinen, und
so verfiel man auf den ausweg, die steuer an die stelle der bewaffnung
zu setzen: im sinne Solons, das muss man zugeben, kam das auf das-
selbe heraus. so schuf man ein provisorium, führte die gesetze Solons
für dieses ein, und es gieng gut, dank der energie des Archinos
trotz dem ansturme der radicalen. aber ein definitivum konnte daraus
nicht werden. die steuer ward weder regelmässig gezahlt, noch gab es
eine staatliche controlle der einschätzung. wenn man die politischen
rechte mit der steuerdeclaration für die dritte classe verband, so musste
der erfolg sein, dass es damit gienge wie bei der meldung zur ämter-
losung, wo sich niemals einer als thete bekannte (Ar. 7, 4). da geriet
Phormisios auf den ausweg, den grundbesitz zu verlangen. die solo-
nischen classen selbst waren ihren namen nach auf diesen berechnet,
denn man hatte sich gewöhnt, auch ritter und zeugiten durch einen
festen satz von geernteten scheffeln bestimmt zu glauben. diese classen-
einteilung selbst würde nun freilich in praktischer anwendung Attika
nicht auf die solonischen zeiten zurückgeführt haben, sondern auf die
weit zurückliegende urzeit, der diese classen entstammen, als es noch
ein reiner ackerbaustaat war und dem entsprechend an bedeutung noch
hinter Megara zurückstand. diese reaction lag dem Phormisios fern;
was er forderte, war nur die durchführung der forderung, die theoretisch
für alle Athener immer noch galt, dass sie eine eigene heimstätte, einen
Zeus erkeios hätten. diese forderung war nicht schwer; sie liess solche
leute wie Sokrates, der weder waffen noch steuern zu praestiren im
stande war, im genusse der politischen rechte, schloss nach der sicher-
lich übertreibenden schätzung des Lysias nur 5000 proletarier aus, und
das in der zeit der schwersten calamität, so dass auf eine sehr starke
verminderung dieser zahl schon für die nächste zukunft zu hoffen war.
wenn das volk, d. h. damals die timemata parekhomenoi trotzdem sich
für die volle demokratie entschieden haben, so können wir nicht umhin
anzuerkennen, dass sie dem wirklichen Solon und der wirklichen patrios
politeia lieber haben folgen wollen als den noch so geschickt ausge-
dachten vorschlägen der gegenwart. denn in den gesetzen Solons waren
die volksversammlung und das active wahlrecht und die geschwornen-
stellen den theten zugänglich gemacht. dass darin tatsächlich 403 die
radicale demokratie, 593 eine sehr bescheidene gewalt lag, verschlug
für das prinzip nichts, aber hier am deutlichsten kommt es an den tag:
der keim zu der radicalen demokratie war durch Solon gelegt. so hat

Antrag des Phormisios.
aber schon der äuſsere umstand, daſs die Dreiſsig den städtern ihre
waffen confiscirt hatten (37, 1), lieſs das nicht angängig erscheinen, und
so verfiel man auf den ausweg, die steuer an die stelle der bewaffnung
zu setzen: im sinne Solons, das muſs man zugeben, kam das auf das-
selbe heraus. so schuf man ein provisorium, führte die gesetze Solons
für dieses ein, und es gieng gut, dank der energie des Archinos
trotz dem ansturme der radicalen. aber ein definitivum konnte daraus
nicht werden. die steuer ward weder regelmäſsig gezahlt, noch gab es
eine staatliche controlle der einschätzung. wenn man die politischen
rechte mit der steuerdeclaration für die dritte classe verband, so muſste
der erfolg sein, daſs es damit gienge wie bei der meldung zur ämter-
losung, wo sich niemals einer als thete bekannte (Ar. 7, 4). da geriet
Phormisios auf den ausweg, den grundbesitz zu verlangen. die solo-
nischen classen selbst waren ihren namen nach auf diesen berechnet,
denn man hatte sich gewöhnt, auch ritter und zeugiten durch einen
festen satz von geernteten scheffeln bestimmt zu glauben. diese classen-
einteilung selbst würde nun freilich in praktischer anwendung Attika
nicht auf die solonischen zeiten zurückgeführt haben, sondern auf die
weit zurückliegende urzeit, der diese classen entstammen, als es noch
ein reiner ackerbaustaat war und dem entsprechend an bedeutung noch
hinter Megara zurückstand. diese reaction lag dem Phormisios fern;
was er forderte, war nur die durchführung der forderung, die theoretisch
für alle Athener immer noch galt, daſs sie eine eigene heimstätte, einen
Ζεὺς ἑϱκεῖος hätten. diese forderung war nicht schwer; sie lieſs solche
leute wie Sokrates, der weder waffen noch steuern zu praestiren im
stande war, im genusse der politischen rechte, schloſs nach der sicher-
lich übertreibenden schätzung des Lysias nur 5000 proletarier aus, und
das in der zeit der schwersten calamität, so daſs auf eine sehr starke
verminderung dieser zahl schon für die nächste zukunft zu hoffen war.
wenn das volk, d. h. damals die τιμήματα παϱεχόμενοι trotzdem sich
für die volle demokratie entschieden haben, so können wir nicht umhin
anzuerkennen, daſs sie dem wirklichen Solon und der wirklichen πάτϱιος
πολιτεία lieber haben folgen wollen als den noch so geschickt ausge-
dachten vorschlägen der gegenwart. denn in den gesetzen Solons waren
die volksversammlung und das active wahlrecht und die geschwornen-
stellen den theten zugänglich gemacht. daſs darin tatsächlich 403 die
radicale demokratie, 593 eine sehr bescheidene gewalt lag, verschlug
für das prinzip nichts, aber hier am deutlichsten kommt es an den tag:
der keim zu der radicalen demokratie war durch Solon gelegt. so hat

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[229/0239] Antrag des Phormisios. aber schon der äuſsere umstand, daſs die Dreiſsig den städtern ihre waffen confiscirt hatten (37, 1), lieſs das nicht angängig erscheinen, und so verfiel man auf den ausweg, die steuer an die stelle der bewaffnung zu setzen: im sinne Solons, das muſs man zugeben, kam das auf das- selbe heraus. so schuf man ein provisorium, führte die gesetze Solons für dieses ein, und es gieng gut, dank der energie des Archinos trotz dem ansturme der radicalen. aber ein definitivum konnte daraus nicht werden. die steuer ward weder regelmäſsig gezahlt, noch gab es eine staatliche controlle der einschätzung. wenn man die politischen rechte mit der steuerdeclaration für die dritte classe verband, so muſste der erfolg sein, daſs es damit gienge wie bei der meldung zur ämter- losung, wo sich niemals einer als thete bekannte (Ar. 7, 4). da geriet Phormisios auf den ausweg, den grundbesitz zu verlangen. die solo- nischen classen selbst waren ihren namen nach auf diesen berechnet, denn man hatte sich gewöhnt, auch ritter und zeugiten durch einen festen satz von geernteten scheffeln bestimmt zu glauben. diese classen- einteilung selbst würde nun freilich in praktischer anwendung Attika nicht auf die solonischen zeiten zurückgeführt haben, sondern auf die weit zurückliegende urzeit, der diese classen entstammen, als es noch ein reiner ackerbaustaat war und dem entsprechend an bedeutung noch hinter Megara zurückstand. diese reaction lag dem Phormisios fern; was er forderte, war nur die durchführung der forderung, die theoretisch für alle Athener immer noch galt, daſs sie eine eigene heimstätte, einen Ζεὺς ἑϱκεῖος hätten. diese forderung war nicht schwer; sie lieſs solche leute wie Sokrates, der weder waffen noch steuern zu praestiren im stande war, im genusse der politischen rechte, schloſs nach der sicher- lich übertreibenden schätzung des Lysias nur 5000 proletarier aus, und das in der zeit der schwersten calamität, so daſs auf eine sehr starke verminderung dieser zahl schon für die nächste zukunft zu hoffen war. wenn das volk, d. h. damals die τιμήματα παϱεχόμενοι trotzdem sich für die volle demokratie entschieden haben, so können wir nicht umhin anzuerkennen, daſs sie dem wirklichen Solon und der wirklichen πάτϱιος πολιτεία lieber haben folgen wollen als den noch so geschickt ausge- dachten vorschlägen der gegenwart. denn in den gesetzen Solons waren die volksversammlung und das active wahlrecht und die geschwornen- stellen den theten zugänglich gemacht. daſs darin tatsächlich 403 die radicale demokratie, 593 eine sehr bescheidene gewalt lag, verschlug für das prinzip nichts, aber hier am deutlichsten kommt es an den tag: der keim zu der radicalen demokratie war durch Solon gelegt. so hat

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/239>, abgerufen am 28.03.2024.