Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

II. 11. Timemata parekhomenoi.
chien eine masse gänzlich verarmter bürger in die heimat zurückströmten,
die auszuschliessen ein hartes gebot der not schien, und die durch diese
formulirung der qualification entweder sicher die politischen rechte
verloren oder zur ansiedelung, an der dem gesetzgeber liegen musste,
angetrieben wurden. Phormisios konnte sich mit fug und recht
darauf berufen, dass er dem städtischen demos einen starken antrieb
gäbe, sich dem landbau zu widmen, der seit 431 heruntergekommen war
aber einst die macht des demos begründet hatte.

Eine letzte frage ist noch, wie die verschiedenen männer auf die
verschiedenen lösungen der frage gekommen sind, das proletariat von
der staatsverwaltung auszuschliessen, und doch alle den anschluss an die
väterliche verfassung und die gesetze Solons gesucht und vermeintlich
gefunden haben.

Die alten classen bestanden nominell, hatten aber praktisch ihre
bedeutung verloren. die rückkehr zu Solon und Drakon war die
parole; aber bei jedem versuche erwies sich die gegenwart stärker als
das ideal. 411 hatte man es mit Drakon versucht und durch die forde-
rung, sich selbst zu equipiren, die bürger auszusondern gehofft, die den
staat sicher leiten könnten. der erfolg hatte gelehrt, dass diese forderung,
obwol sie eigentlich die grenze zog, die Solon dem passiven wahlrechte
auch gezogen hatte, viel zu stark war. als die oligarchie in der stadt
gebot, aber entmutigt und zur verständigung geneigt, im hafen eine
revolutionäre und mit bedenklichen elementen fremder herkunft ver-
mischte demokratie trotzig ihr gegenüber stand, sah Pausanias ein, dass
die oligarchie nur durch die unterhaltung einer garnison in Athen ge-
schützt werden konnte, und die demokratie, gestützt auf die sympathie
der Hellenen und die beihilfe nicht bloss von Argos, sondern auch von
Theben, selbst wenn er den Peiraieus nahm, gefährlich bleiben musste;
die herrschaft des scheinbar allmächtigen Sparta stand auf allzuschwachen
füssen. so förderte er einsichtig einen compromiss auf der basis, die
Theramenes 404 vereinbart hatte oder doch vereinbaren wollte. die
amnestie, die zuweisung von Eleusis an die attischen oligarchen, die
übernahme der verpflichtungen der oligarchen gegen Sparta durch die
neue regierung schienen ihm mit recht aussreichend, um das neue Athen
untertänig zu halten. aber die schrankenlose demokratie durfte er
nicht einsetzen, und darauf konnten auch die städter nicht eingehn.
da stieg also wieder die patrios politeia auf, die solonischen gesetze.
man hätte auf die forderungen von 411 zurückgreifen können und die
selbstequipirung als qualification für das volle bürgerrecht verlangen.

II. 11. Τιμήματα παϱεχόμενοι.
chien eine masse gänzlich verarmter bürger in die heimat zurückströmten,
die auszuschlieſsen ein hartes gebot der not schien, und die durch diese
formulirung der qualification entweder sicher die politischen rechte
verloren oder zur ansiedelung, an der dem gesetzgeber liegen muſste,
angetrieben wurden. Phormisios konnte sich mit fug und recht
darauf berufen, daſs er dem städtischen demos einen starken antrieb
gäbe, sich dem landbau zu widmen, der seit 431 heruntergekommen war
aber einst die macht des demos begründet hatte.

Eine letzte frage ist noch, wie die verschiedenen männer auf die
verschiedenen lösungen der frage gekommen sind, das proletariat von
der staatsverwaltung auszuschlieſsen, und doch alle den anschluſs an die
väterliche verfassung und die gesetze Solons gesucht und vermeintlich
gefunden haben.

Die alten classen bestanden nominell, hatten aber praktisch ihre
bedeutung verloren. die rückkehr zu Solon und Drakon war die
parole; aber bei jedem versuche erwies sich die gegenwart stärker als
das ideal. 411 hatte man es mit Drakon versucht und durch die forde-
rung, sich selbst zu equipiren, die bürger auszusondern gehofft, die den
staat sicher leiten könnten. der erfolg hatte gelehrt, daſs diese forderung,
obwol sie eigentlich die grenze zog, die Solon dem passiven wahlrechte
auch gezogen hatte, viel zu stark war. als die oligarchie in der stadt
gebot, aber entmutigt und zur verständigung geneigt, im hafen eine
revolutionäre und mit bedenklichen elementen fremder herkunft ver-
mischte demokratie trotzig ihr gegenüber stand, sah Pausanias ein, daſs
die oligarchie nur durch die unterhaltung einer garnison in Athen ge-
schützt werden konnte, und die demokratie, gestützt auf die sympathie
der Hellenen und die beihilfe nicht bloſs von Argos, sondern auch von
Theben, selbst wenn er den Peiraieus nahm, gefährlich bleiben muſste;
die herrschaft des scheinbar allmächtigen Sparta stand auf allzuschwachen
füſsen. so förderte er einsichtig einen compromiſs auf der basis, die
Theramenes 404 vereinbart hatte oder doch vereinbaren wollte. die
amnestie, die zuweisung von Eleusis an die attischen oligarchen, die
übernahme der verpflichtungen der oligarchen gegen Sparta durch die
neue regierung schienen ihm mit recht aussreichend, um das neue Athen
untertänig zu halten. aber die schrankenlose demokratie durfte er
nicht einsetzen, und darauf konnten auch die städter nicht eingehn.
da stieg also wieder die πάτϱιος πολιτεία auf, die solonischen gesetze.
man hätte auf die forderungen von 411 zurückgreifen können und die
selbstequipirung als qualification für das volle bürgerrecht verlangen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0238" n="228"/><fw place="top" type="header">II. 11. &#x03A4;&#x03B9;&#x03BC;&#x03AE;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1; &#x03C0;&#x03B1;&#x03F1;&#x03B5;&#x03C7;&#x03CC;&#x03BC;&#x03B5;&#x03BD;&#x03BF;&#x03B9;.</fw><lb/>
chien eine masse gänzlich verarmter bürger in die heimat zurückströmten,<lb/>
die auszuschlie&#x017F;sen ein hartes gebot der not schien, und die durch diese<lb/>
formulirung der qualification entweder sicher die politischen rechte<lb/>
verloren oder zur ansiedelung, an der dem gesetzgeber liegen mu&#x017F;ste,<lb/>
angetrieben wurden. Phormisios konnte sich mit fug und recht<lb/>
darauf berufen, da&#x017F;s er dem städtischen demos einen starken antrieb<lb/>
gäbe, sich dem landbau zu widmen, der seit 431 heruntergekommen war<lb/>
aber einst die macht des demos begründet hatte.</p><lb/>
          <p>Eine letzte frage ist noch, wie die verschiedenen männer auf die<lb/>
verschiedenen lösungen der frage gekommen sind, das proletariat von<lb/>
der staatsverwaltung auszuschlie&#x017F;sen, und doch alle den anschlu&#x017F;s an die<lb/>
väterliche verfassung und die gesetze Solons gesucht und vermeintlich<lb/>
gefunden haben.</p><lb/>
          <p>Die alten classen bestanden nominell, hatten aber praktisch ihre<lb/>
bedeutung verloren. die rückkehr zu Solon und Drakon war die<lb/>
parole; aber bei jedem versuche erwies sich die gegenwart stärker als<lb/>
das ideal. 411 hatte man es mit Drakon versucht und durch die forde-<lb/>
rung, sich selbst zu equipiren, die bürger auszusondern gehofft, die den<lb/>
staat sicher leiten könnten. der erfolg hatte gelehrt, da&#x017F;s diese forderung,<lb/>
obwol sie eigentlich die grenze zog, die Solon dem passiven wahlrechte<lb/>
auch gezogen hatte, viel zu stark war. als die oligarchie in der stadt<lb/>
gebot, aber entmutigt und zur verständigung geneigt, im hafen eine<lb/>
revolutionäre und mit bedenklichen elementen fremder herkunft ver-<lb/>
mischte demokratie trotzig ihr gegenüber stand, sah Pausanias ein, da&#x017F;s<lb/>
die oligarchie nur durch die unterhaltung einer garnison in Athen ge-<lb/>
schützt werden konnte, und die demokratie, gestützt auf die sympathie<lb/>
der Hellenen und die beihilfe nicht blo&#x017F;s von Argos, sondern auch von<lb/>
Theben, selbst wenn er den Peiraieus nahm, gefährlich bleiben mu&#x017F;ste;<lb/>
die herrschaft des scheinbar allmächtigen Sparta stand auf allzuschwachen<lb/>&#x017F;sen. so förderte er einsichtig einen compromi&#x017F;s auf der basis, die<lb/>
Theramenes 404 vereinbart hatte oder doch vereinbaren wollte. die<lb/>
amnestie, die zuweisung von Eleusis an die attischen oligarchen, die<lb/>
übernahme der verpflichtungen der oligarchen gegen Sparta durch die<lb/>
neue regierung schienen ihm mit recht aussreichend, um das neue Athen<lb/>
untertänig zu halten. aber die schrankenlose demokratie durfte er<lb/>
nicht einsetzen, und darauf konnten auch die städter nicht eingehn.<lb/>
da stieg also wieder die &#x03C0;&#x03AC;&#x03C4;&#x03F1;&#x03B9;&#x03BF;&#x03C2; &#x03C0;&#x03BF;&#x03BB;&#x03B9;&#x03C4;&#x03B5;&#x03AF;&#x03B1; auf, die solonischen gesetze.<lb/>
man hätte auf die forderungen von 411 zurückgreifen können und die<lb/>
selbstequipirung als qualification für das volle bürgerrecht verlangen.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0238] II. 11. Τιμήματα παϱεχόμενοι. chien eine masse gänzlich verarmter bürger in die heimat zurückströmten, die auszuschlieſsen ein hartes gebot der not schien, und die durch diese formulirung der qualification entweder sicher die politischen rechte verloren oder zur ansiedelung, an der dem gesetzgeber liegen muſste, angetrieben wurden. Phormisios konnte sich mit fug und recht darauf berufen, daſs er dem städtischen demos einen starken antrieb gäbe, sich dem landbau zu widmen, der seit 431 heruntergekommen war aber einst die macht des demos begründet hatte. Eine letzte frage ist noch, wie die verschiedenen männer auf die verschiedenen lösungen der frage gekommen sind, das proletariat von der staatsverwaltung auszuschlieſsen, und doch alle den anschluſs an die väterliche verfassung und die gesetze Solons gesucht und vermeintlich gefunden haben. Die alten classen bestanden nominell, hatten aber praktisch ihre bedeutung verloren. die rückkehr zu Solon und Drakon war die parole; aber bei jedem versuche erwies sich die gegenwart stärker als das ideal. 411 hatte man es mit Drakon versucht und durch die forde- rung, sich selbst zu equipiren, die bürger auszusondern gehofft, die den staat sicher leiten könnten. der erfolg hatte gelehrt, daſs diese forderung, obwol sie eigentlich die grenze zog, die Solon dem passiven wahlrechte auch gezogen hatte, viel zu stark war. als die oligarchie in der stadt gebot, aber entmutigt und zur verständigung geneigt, im hafen eine revolutionäre und mit bedenklichen elementen fremder herkunft ver- mischte demokratie trotzig ihr gegenüber stand, sah Pausanias ein, daſs die oligarchie nur durch die unterhaltung einer garnison in Athen ge- schützt werden konnte, und die demokratie, gestützt auf die sympathie der Hellenen und die beihilfe nicht bloſs von Argos, sondern auch von Theben, selbst wenn er den Peiraieus nahm, gefährlich bleiben muſste; die herrschaft des scheinbar allmächtigen Sparta stand auf allzuschwachen füſsen. so förderte er einsichtig einen compromiſs auf der basis, die Theramenes 404 vereinbart hatte oder doch vereinbaren wollte. die amnestie, die zuweisung von Eleusis an die attischen oligarchen, die übernahme der verpflichtungen der oligarchen gegen Sparta durch die neue regierung schienen ihm mit recht aussreichend, um das neue Athen untertänig zu halten. aber die schrankenlose demokratie durfte er nicht einsetzen, und darauf konnten auch die städter nicht eingehn. da stieg also wieder die πάτϱιος πολιτεία auf, die solonischen gesetze. man hätte auf die forderungen von 411 zurückgreifen können und die selbstequipirung als qualification für das volle bürgerrecht verlangen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/238
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/238>, abgerufen am 16.04.2024.