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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Antrag des Phormisios.
kreise. zu klarem urteil verhilft am besten die vergleichung der zahlen,
so wenig genau sie auch sind. durch die beschränkung auf die grund-
besitzer sollen 5000 ausgeschlossen werden; durch die beschränkung
auf die opla parekhomenoi sollten 411 nur 5000 berechtigte bleiben.
das führt zu dem überraschenden schlusse, dass eine grosse anzahl von
grundbesitzern sich nicht equipiren konnten, also theten waren. und
die behauptung des Lysias, dass die ausschliessung der capitalisten vom
bürgerrecht den staat um viele reiter und hopliten bringen müsste,
erweist sich als eine theoretisch richtige, tatsächlich nichtige behaup-
tung.12) um das befremdliche zu verstehn, müssen wir zunächst die
formel gen kektemenoi in gen e oikian kektemenoi erweitern. die
formelsprache aller Hellenen unterscheidet beides, aber dem rhetor
können wir die abgekürzte, seinen zwecken dienliche ausdrucksweise
verzeihen. damit verschwindet der grösste teil des anstosses. ein haus
ist in Athen ein sehr wenig wertvoller besitz, darum haben es so gut
wie alle bürger, wenn sie nicht wirklich proletarier sind und als solche
leben. zur miete wohnen wesentlich nur fremde und metöken, weil
sie vom erwerbe von grund und boden ausgeschlossen sind.13) wir
kennen ja den hausbesitzer Sokrates von Alopeke, der doch nur ein
vermögen von 100 drachmen hatte14), also wirklich keine rüstung mehr
halten und keine steuern zahlen konnte. selbst der besitz eines gärt-
chens oder wingerts, wie wir ihn bei der ungemeinen zersplitterung
des grundbesitzes allerdings sehr vielen bürgern zutrauen dürfen, muss,
zumal in der kriegszeit, wo so viele äcker, selbst dicht bei der stadt,
wüst lagen, sehr oft kein steuerfähiges einkommen abgeworfen haben.
andererseits konnte es nicht fehlen, dass durch den verlust ihrer kleru-

12) Useners ausweg, an die seit 412 aufgekommene einstellung der theten als
hopliten zu denken, denen dann der staat die waffen lieferte, ist nicht gangbar: das
konnte der staat auch, wenn die theten der politischen rechte entbehrten. er hatte
ja selbst sclaven bewaffnet.
13) Die besitzer der mietshäuser (sunoikiai) profitiren deshalb von dem ge-
richtszwange der bündner, [Xen.] Pol. Ath. 1, 17.
14) Plat. Apol. 38b. dass Sokrates, der als hoplit gedient hatte, verarmt ge-
wesen sein muss, habe ich schon früher bemerkt. von dem ertrag von 100 drachmen
konnte er nicht leben, mit weib und kindern noch dazu. gleichwol erwarb er
nichts. also hat er sich nicht gescheut, dem grundsatze koina ta ton philon als
empfangender zu huldigen, und Kriton wird sich der braven Xanthippe angenommen
haben. aber eine bezahlung für den unterricht war das nicht, und ich bedauere,
dass ein Aristoxenos wider Platon ins feld geführt wird, um den Sokrates wol gar
als schulstifter hinzustellen.
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Antrag des Phormisios.
kreise. zu klarem urteil verhilft am besten die vergleichung der zahlen,
so wenig genau sie auch sind. durch die beschränkung auf die grund-
besitzer sollen 5000 ausgeschlossen werden; durch die beschränkung
auf die ὅπλα παϱεχόμενοι sollten 411 nur 5000 berechtigte bleiben.
das führt zu dem überraschenden schlusse, daſs eine groſse anzahl von
grundbesitzern sich nicht equipiren konnten, also theten waren. und
die behauptung des Lysias, daſs die ausschlieſsung der capitalisten vom
bürgerrecht den staat um viele reiter und hopliten bringen müſste,
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tung.12) um das befremdliche zu verstehn, müssen wir zunächst die
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formelsprache aller Hellenen unterscheidet beides, aber dem rhetor
können wir die abgekürzte, seinen zwecken dienliche ausdrucksweise
verzeihen. damit verschwindet der gröſste teil des anstoſses. ein haus
ist in Athen ein sehr wenig wertvoller besitz, darum haben es so gut
wie alle bürger, wenn sie nicht wirklich proletarier sind und als solche
leben. zur miete wohnen wesentlich nur fremde und metöken, weil
sie vom erwerbe von grund und boden ausgeschlossen sind.13) wir
kennen ja den hausbesitzer Sokrates von Alopeke, der doch nur ein
vermögen von 100 drachmen hatte14), also wirklich keine rüstung mehr
halten und keine steuern zahlen konnte. selbst der besitz eines gärt-
chens oder wingerts, wie wir ihn bei der ungemeinen zersplitterung
des grundbesitzes allerdings sehr vielen bürgern zutrauen dürfen, muſs,
zumal in der kriegszeit, wo so viele äcker, selbst dicht bei der stadt,
wüst lagen, sehr oft kein steuerfähiges einkommen abgeworfen haben.
andererseits konnte es nicht fehlen, daſs durch den verlust ihrer kleru-

12) Useners ausweg, an die seit 412 aufgekommene einstellung der theten als
hopliten zu denken, denen dann der staat die waffen lieferte, ist nicht gangbar: das
konnte der staat auch, wenn die theten der politischen rechte entbehrten. er hatte
ja selbst sclaven bewaffnet.
13) Die besitzer der mietshäuser (συνοικίαι) profitiren deshalb von dem ge-
richtszwange der bündner, [Xen.] Πολ. Αϑ. 1, 17.
14) Plat. Apol. 38b. daſs Sokrates, der als hoplit gedient hatte, verarmt ge-
wesen sein muſs, habe ich schon früher bemerkt. von dem ertrag von 100 drachmen
konnte er nicht leben, mit weib und kindern noch dazu. gleichwol erwarb er
nichts. also hat er sich nicht gescheut, dem grundsatze κοινὰ τὰ τῶν φίλων als
empfangender zu huldigen, und Kriton wird sich der braven Xanthippe angenommen
haben. aber eine bezahlung für den unterricht war das nicht, und ich bedauere,
daſs ein Aristoxenos wider Platon ins feld geführt wird, um den Sokrates wol gar
als schulstifter hinzustellen.
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[227/0237] Antrag des Phormisios. kreise. zu klarem urteil verhilft am besten die vergleichung der zahlen, so wenig genau sie auch sind. durch die beschränkung auf die grund- besitzer sollen 5000 ausgeschlossen werden; durch die beschränkung auf die ὅπλα παϱεχόμενοι sollten 411 nur 5000 berechtigte bleiben. das führt zu dem überraschenden schlusse, daſs eine groſse anzahl von grundbesitzern sich nicht equipiren konnten, also theten waren. und die behauptung des Lysias, daſs die ausschlieſsung der capitalisten vom bürgerrecht den staat um viele reiter und hopliten bringen müſste, erweist sich als eine theoretisch richtige, tatsächlich nichtige behaup- tung. 12) um das befremdliche zu verstehn, müssen wir zunächst die formel γῆν κεκτημένοι in γῆν ἢ οἰκίαν κεκτημένοι erweitern. die formelsprache aller Hellenen unterscheidet beides, aber dem rhetor können wir die abgekürzte, seinen zwecken dienliche ausdrucksweise verzeihen. damit verschwindet der gröſste teil des anstoſses. ein haus ist in Athen ein sehr wenig wertvoller besitz, darum haben es so gut wie alle bürger, wenn sie nicht wirklich proletarier sind und als solche leben. zur miete wohnen wesentlich nur fremde und metöken, weil sie vom erwerbe von grund und boden ausgeschlossen sind. 13) wir kennen ja den hausbesitzer Sokrates von Alopeke, der doch nur ein vermögen von 100 drachmen hatte 14), also wirklich keine rüstung mehr halten und keine steuern zahlen konnte. selbst der besitz eines gärt- chens oder wingerts, wie wir ihn bei der ungemeinen zersplitterung des grundbesitzes allerdings sehr vielen bürgern zutrauen dürfen, muſs, zumal in der kriegszeit, wo so viele äcker, selbst dicht bei der stadt, wüst lagen, sehr oft kein steuerfähiges einkommen abgeworfen haben. andererseits konnte es nicht fehlen, daſs durch den verlust ihrer kleru- 12) Useners ausweg, an die seit 412 aufgekommene einstellung der theten als hopliten zu denken, denen dann der staat die waffen lieferte, ist nicht gangbar: das konnte der staat auch, wenn die theten der politischen rechte entbehrten. er hatte ja selbst sclaven bewaffnet. 13) Die besitzer der mietshäuser (συνοικίαι) profitiren deshalb von dem ge- richtszwange der bündner, [Xen.] Πολ. Αϑ. 1, 17. 14) Plat. Apol. 38b. daſs Sokrates, der als hoplit gedient hatte, verarmt ge- wesen sein muſs, habe ich schon früher bemerkt. von dem ertrag von 100 drachmen konnte er nicht leben, mit weib und kindern noch dazu. gleichwol erwarb er nichts. also hat er sich nicht gescheut, dem grundsatze κοινὰ τὰ τῶν φίλων als empfangender zu huldigen, und Kriton wird sich der braven Xanthippe angenommen haben. aber eine bezahlung für den unterricht war das nicht, und ich bedauere, daſs ein Aristoxenos wider Platon ins feld geführt wird, um den Sokrates wol gar als schulstifter hinzustellen. 15*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/237>, abgerufen am 19.04.2024.