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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Lysias wider Eratosthenes. die provisorische verfassung von 403.
noch auf formell gesetzlichem boden, und so hat der process des Erato-
sthenes eine erhöhte bedeutung erhalten. der gerichtshof bestand nur
aus den besitzenden; sie haben freilich den Eratosthenes nicht verurteilt,
aber die partei des Lysias war durchaus nicht entmutigt, und seine rede
war ein so ausgezeichnetes schriftstück, dass er sie als pamphlet ver-
öffentlicht hat, gewiss nicht ohne erfolg für seine sache.

Ein zweiter vorstoss war der antrag des Thrasybulos, alle die, dieThrasybulos
und
Archinos.

aus dem Peiraieus gekommen waren, als bürger anzuerkennen.7) das war
freilich so flagrant ungesetzlich, dass der antrag fiel, da die nomoi ep
andri notwendigerweise ganz persönlich behandelt werden mussten.
ein kräftiger rückschlag von der gegenseite war, dass Archinos den rat
dazu vermochte, einen radikalen heisssporn wegen einer für uns nicht
genau erkennbaren verletzung der amnestie ohne weiteres zum tode zu
verurteilen, und später gegen die anschuldigungen, für die die amnestie
galt, das rechtsmittel der paragraphe zu gestatten8). offenbar sind
der rat und das volk von 403/2 für die partei des Lysias nicht zu haben
gewesen.

Aber wer war 403 das volk und wie war der rat gebildet? mitDie proviso-
rische ver-
fassung von
403.

anderen worten, welche verfassung ist vom könig Pausanias concedirt
und zwischen stadt und hafen vereinbart worden? es bedarf nur geringer
überlegung, um zu schliessen, dass es die demokratie von 405 unmöglich
gewesen sein kann, obwol wir wissen, dass diese demokratie, im prinzip
wenigstens, noch unter Eukleides eingeführt worden ist. aber wir brauchen
keinen indicienbeweis, denn die documente liegen vor.

Andokides (1, 81) erzählt im jahre 399, dass nach der versöhnung
zuerst eine provisorische regierung von 20 leuten, vermutlich strategen9),
je 10 von jeder partei gewählt, die geschäfte führte, bis ein rat ein-

7) Thrasybulos zeigt sich sowohl durch die protection des Lysias wie durch
seinen gesetzwidrigen antrag viel mehr als prostates tou demou denn als staats-
mann. er ist gewiss ein patriot gewesen, das hat er 411, 403 und 390 bewiesen,
aber seine innere wie seine äussere politik beweist nicht mehr, als dass er die
ideale des Reiches und seiner demokratie begriffen hatte und zäh an ihnen fest hielt.
seine eigene zeit hat er dagegen nicht mehr begriffen. weil die demokratie herrschte,
hat sie ihm den höchsten ruhmeskranz gespendet; nichts ist dafür bezeichnender,
als dass der panegyrikos, den Nepos übersetzt, geradezu die verdienste des Archinos
auf Thrasybul überträgt.
8) Vgl. die beilage 'die paragraphe und Lysias wider Pankleon.'
9) Wenn man auf die lückenhafte stelle Xenophons 2, 4, 39 so viel geben darf,
wo die strategen, zu denen Thrasybul gehört, die versammlung des volkes (eine
contio, keine comitia, denn sie hören nur eine ansprache) berufen und entlassen.

Lysias wider Eratosthenes. die provisorische verfassung von 403.
noch auf formell gesetzlichem boden, und so hat der process des Erato-
sthenes eine erhöhte bedeutung erhalten. der gerichtshof bestand nur
aus den besitzenden; sie haben freilich den Eratosthenes nicht verurteilt,
aber die partei des Lysias war durchaus nicht entmutigt, und seine rede
war ein so ausgezeichnetes schriftstück, daſs er sie als pamphlet ver-
öffentlicht hat, gewiſs nicht ohne erfolg für seine sache.

Ein zweiter vorstoſs war der antrag des Thrasybulos, alle die, dieThrasybulos
und
Archinos.

aus dem Peiraieus gekommen waren, als bürger anzuerkennen.7) das war
freilich so flagrant ungesetzlich, daſs der antrag fiel, da die νόμοι ἐπ̕
ἀνδϱί notwendigerweise ganz persönlich behandelt werden muſsten.
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galt, das rechtsmittel der παϱαγϱαφή zu gestatten8). offenbar sind
der rat und das volk von 403/2 für die partei des Lysias nicht zu haben
gewesen.

Aber wer war 403 das volk und wie war der rat gebildet? mitDie proviso-
rische ver-
fassung von
403.

anderen worten, welche verfassung ist vom könig Pausanias concedirt
und zwischen stadt und hafen vereinbart worden? es bedarf nur geringer
überlegung, um zu schlieſsen, daſs es die demokratie von 405 unmöglich
gewesen sein kann, obwol wir wissen, daſs diese demokratie, im prinzip
wenigstens, noch unter Eukleides eingeführt worden ist. aber wir brauchen
keinen indicienbeweis, denn die documente liegen vor.

Andokides (1, 81) erzählt im jahre 399, daſs nach der versöhnung
zuerst eine provisorische regierung von 20 leuten, vermutlich strategen9),
je 10 von jeder partei gewählt, die geschäfte führte, bis ein rat ein-

7) Thrasybulos zeigt sich sowohl durch die protection des Lysias wie durch
seinen gesetzwidrigen antrag viel mehr als πϱοστάτης τοῦ δήμου denn als staats-
mann. er ist gewiſs ein patriot gewesen, das hat er 411, 403 und 390 bewiesen,
aber seine innere wie seine äuſsere politik beweist nicht mehr, als daſs er die
ideale des Reiches und seiner demokratie begriffen hatte und zäh an ihnen fest hielt.
seine eigene zeit hat er dagegen nicht mehr begriffen. weil die demokratie herrschte,
hat sie ihm den höchsten ruhmeskranz gespendet; nichts ist dafür bezeichnender,
als daſs der panegyrikos, den Nepos übersetzt, geradezu die verdienste des Archinos
auf Thrasybul überträgt.
8) Vgl. die beilage ‘die paragraphe und Lysias wider Pankleon.’
9) Wenn man auf die lückenhafte stelle Xenophons 2, 4, 39 so viel geben darf,
wo die strategen, zu denen Thrasybul gehört, die versammlung des volkes (eine
contio, keine comitia, denn sie hören nur eine ansprache) berufen und entlassen.
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[223/0233] Lysias wider Eratosthenes. die provisorische verfassung von 403. noch auf formell gesetzlichem boden, und so hat der process des Erato- sthenes eine erhöhte bedeutung erhalten. der gerichtshof bestand nur aus den besitzenden; sie haben freilich den Eratosthenes nicht verurteilt, aber die partei des Lysias war durchaus nicht entmutigt, und seine rede war ein so ausgezeichnetes schriftstück, daſs er sie als pamphlet ver- öffentlicht hat, gewiſs nicht ohne erfolg für seine sache. Ein zweiter vorstoſs war der antrag des Thrasybulos, alle die, die aus dem Peiraieus gekommen waren, als bürger anzuerkennen. 7) das war freilich so flagrant ungesetzlich, daſs der antrag fiel, da die νόμοι ἐπ̕ ἀνδϱί notwendigerweise ganz persönlich behandelt werden muſsten. ein kräftiger rückschlag von der gegenseite war, daſs Archinos den rat dazu vermochte, einen radikalen heiſssporn wegen einer für uns nicht genau erkennbaren verletzung der amnestie ohne weiteres zum tode zu verurteilen, und später gegen die anschuldigungen, für die die amnestie galt, das rechtsmittel der παϱαγϱαφή zu gestatten 8). offenbar sind der rat und das volk von 403/2 für die partei des Lysias nicht zu haben gewesen. Thrasybulos und Archinos. Aber wer war 403 das volk und wie war der rat gebildet? mit anderen worten, welche verfassung ist vom könig Pausanias concedirt und zwischen stadt und hafen vereinbart worden? es bedarf nur geringer überlegung, um zu schlieſsen, daſs es die demokratie von 405 unmöglich gewesen sein kann, obwol wir wissen, daſs diese demokratie, im prinzip wenigstens, noch unter Eukleides eingeführt worden ist. aber wir brauchen keinen indicienbeweis, denn die documente liegen vor. Die proviso- rische ver- fassung von 403. Andokides (1, 81) erzählt im jahre 399, daſs nach der versöhnung zuerst eine provisorische regierung von 20 leuten, vermutlich strategen 9), je 10 von jeder partei gewählt, die geschäfte führte, bis ein rat ein- 7) Thrasybulos zeigt sich sowohl durch die protection des Lysias wie durch seinen gesetzwidrigen antrag viel mehr als πϱοστάτης τοῦ δήμου denn als staats- mann. er ist gewiſs ein patriot gewesen, das hat er 411, 403 und 390 bewiesen, aber seine innere wie seine äuſsere politik beweist nicht mehr, als daſs er die ideale des Reiches und seiner demokratie begriffen hatte und zäh an ihnen fest hielt. seine eigene zeit hat er dagegen nicht mehr begriffen. weil die demokratie herrschte, hat sie ihm den höchsten ruhmeskranz gespendet; nichts ist dafür bezeichnender, als daſs der panegyrikos, den Nepos übersetzt, geradezu die verdienste des Archinos auf Thrasybul überträgt. 8) Vgl. die beilage ‘die paragraphe und Lysias wider Pankleon.’ 9) Wenn man auf die lückenhafte stelle Xenophons 2, 4, 39 so viel geben darf, wo die strategen, zu denen Thrasybul gehört, die versammlung des volkes (eine contio, keine comitia, denn sie hören nur eine ansprache) berufen und entlassen.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/233>, abgerufen am 28.03.2024.