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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Lysias wider Eratosthenes.
gab, die souveränetät von jenen geübt ward, der kampf aber gegen die
tapferen demokraten gieng. über die art der jetzt geltenden verfassung
ist nichts gesagt als dass die städter gleichberechtigt sind. dann folgt
der appell an die demokraten, der über die politische lage der gegenwart
nichts lehrt und in den allgemeinen epilog, die aufforderung zur ver-
urteilung der Dreissig, übergeht. aber das wesentliche bleibt bestehen,
dass beide parteien im gerichtshofe vertreten sind; also das was am an-
stössigsten schien, die euthyna, ist ganz sicher.

Für die zeit der rede ergibt sich direct kaum etwas, und es reicht hin
zu constatiren, dass sie für die notwendig bald nach der versöhnung
eingetretene euthyna eines der Dreissig in jedem zuge passt. so wild
der redner gegen die Dreissig loszieht, so schweigsam ist er über Sparta.
er vermeidet es die garnisonen auf der burg als solche zu bezeichnen,
sondern redet von epikouroi (94), gleich als ob es gedungene reisläufer
gewesen wären. ebenso wird der staat Eleusis, in dem die ausgewan-
derten städter zu recht herrschen, dadurch respectirt, dass er mit still-
schweigen übergangen wird. dass die überlebenden der Dreissig und
ihre meist compromittirten helfer alle dort untergekommen wären, ist
weder bezeugt noch wahrscheinlich, da gegen die Dreissig der widerwille
schon nach dem gefechte auf Munichia so stark in der stadt gewesen
war, dass sie abgesetzt wurden. so brauchen wir uns nicht zu wun-
dern, wenn Lysias erzählt, dass einzelne staaten einzelne flüchtlinge
der tyrannen auswiesen (35); die verallgemeinerung des sykophanten
streichen wir leicht ab. aber die wendung apousi men tois triakonta
epibouleuete (80) mag vielleicht als ein unbeabsichtigtes zugeständnis
aufgefasst werden, dass der demos gern der leute habhaft werden wollte,
gegen die ihm allein die rache erlaubt war. doch wozu die einzelheiten
durchsprechen, die doch zumeist so oder so verstanden werden können:
der nachweis, dass irgend etwas in der rede verböte, sie auf den rechen-
schaftsprocess zu beziehen, dem Eratosthenes sich freiwillig unterwerfen
wollte, kann getrost abgewartet werden.

Es war dem Lysias gewiss darum zu tun, seinen bruder zu rächen;
das war seine pflicht, und es war ein abscheuliches verbrechen an ihm
begangen. er nahm die gelegenheit wahr, die sich ihm bot, und man
wird ihm bei seiner politischen richtung nicht verargen, dass er aus dem
hasse gegen die Dreissig so viel wie möglich capital für seine anklage
herausschlug. aber die rede will allerdings mehr: sie greift durchaus
nicht etwa die Dreissig um des Eratosthenes willen an, sondern viel
eher umgekehrt. die bedeutung der rede für die zeitgeschichte liegt

Lysias wider Eratosthenes.
gab, die souveränetät von jenen geübt ward, der kampf aber gegen die
tapferen demokraten gieng. über die art der jetzt geltenden verfassung
ist nichts gesagt als daſs die städter gleichberechtigt sind. dann folgt
der appell an die demokraten, der über die politische lage der gegenwart
nichts lehrt und in den allgemeinen epilog, die aufforderung zur ver-
urteilung der Dreiſsig, übergeht. aber das wesentliche bleibt bestehen,
daſs beide parteien im gerichtshofe vertreten sind; also das was am an-
stöſsigsten schien, die euthyna, ist ganz sicher.

Für die zeit der rede ergibt sich direct kaum etwas, und es reicht hin
zu constatiren, daſs sie für die notwendig bald nach der versöhnung
eingetretene euthyna eines der Dreiſsig in jedem zuge paſst. so wild
der redner gegen die Dreiſsig loszieht, so schweigsam ist er über Sparta.
er vermeidet es die garnisonen auf der burg als solche zu bezeichnen,
sondern redet von ἐπίκουϱοι (94), gleich als ob es gedungene reisläufer
gewesen wären. ebenso wird der staat Eleusis, in dem die ausgewan-
derten städter zu recht herrschen, dadurch respectirt, daſs er mit still-
schweigen übergangen wird. daſs die überlebenden der Dreiſsig und
ihre meist compromittirten helfer alle dort untergekommen wären, ist
weder bezeugt noch wahrscheinlich, da gegen die Dreiſsig der widerwille
schon nach dem gefechte auf Munichia so stark in der stadt gewesen
war, daſs sie abgesetzt wurden. so brauchen wir uns nicht zu wun-
dern, wenn Lysias erzählt, daſs einzelne staaten einzelne flüchtlinge
der tyrannen auswiesen (35); die verallgemeinerung des sykophanten
streichen wir leicht ab. aber die wendung ἀποῦσι μὲν τοῖς τϱιάκοντα
ἐπιβουλεύετε (80) mag vielleicht als ein unbeabsichtigtes zugeständnis
aufgefaſst werden, daſs der demos gern der leute habhaft werden wollte,
gegen die ihm allein die rache erlaubt war. doch wozu die einzelheiten
durchsprechen, die doch zumeist so oder so verstanden werden können:
der nachweis, daſs irgend etwas in der rede verböte, sie auf den rechen-
schaftsprocess zu beziehen, dem Eratosthenes sich freiwillig unterwerfen
wollte, kann getrost abgewartet werden.

Es war dem Lysias gewiſs darum zu tun, seinen bruder zu rächen;
das war seine pflicht, und es war ein abscheuliches verbrechen an ihm
begangen. er nahm die gelegenheit wahr, die sich ihm bot, und man
wird ihm bei seiner politischen richtung nicht verargen, daſs er aus dem
hasse gegen die Dreiſsig so viel wie möglich capital für seine anklage
herausschlug. aber die rede will allerdings mehr: sie greift durchaus
nicht etwa die Dreiſsig um des Eratosthenes willen an, sondern viel
eher umgekehrt. die bedeutung der rede für die zeitgeschichte liegt

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[221/0231] Lysias wider Eratosthenes. gab, die souveränetät von jenen geübt ward, der kampf aber gegen die tapferen demokraten gieng. über die art der jetzt geltenden verfassung ist nichts gesagt als daſs die städter gleichberechtigt sind. dann folgt der appell an die demokraten, der über die politische lage der gegenwart nichts lehrt und in den allgemeinen epilog, die aufforderung zur ver- urteilung der Dreiſsig, übergeht. aber das wesentliche bleibt bestehen, daſs beide parteien im gerichtshofe vertreten sind; also das was am an- stöſsigsten schien, die euthyna, ist ganz sicher. Für die zeit der rede ergibt sich direct kaum etwas, und es reicht hin zu constatiren, daſs sie für die notwendig bald nach der versöhnung eingetretene euthyna eines der Dreiſsig in jedem zuge paſst. so wild der redner gegen die Dreiſsig loszieht, so schweigsam ist er über Sparta. er vermeidet es die garnisonen auf der burg als solche zu bezeichnen, sondern redet von ἐπίκουϱοι (94), gleich als ob es gedungene reisläufer gewesen wären. ebenso wird der staat Eleusis, in dem die ausgewan- derten städter zu recht herrschen, dadurch respectirt, daſs er mit still- schweigen übergangen wird. daſs die überlebenden der Dreiſsig und ihre meist compromittirten helfer alle dort untergekommen wären, ist weder bezeugt noch wahrscheinlich, da gegen die Dreiſsig der widerwille schon nach dem gefechte auf Munichia so stark in der stadt gewesen war, daſs sie abgesetzt wurden. so brauchen wir uns nicht zu wun- dern, wenn Lysias erzählt, daſs einzelne staaten einzelne flüchtlinge der tyrannen auswiesen (35); die verallgemeinerung des sykophanten streichen wir leicht ab. aber die wendung ἀποῦσι μὲν τοῖς τϱιάκοντα ἐπιβουλεύετε (80) mag vielleicht als ein unbeabsichtigtes zugeständnis aufgefaſst werden, daſs der demos gern der leute habhaft werden wollte, gegen die ihm allein die rache erlaubt war. doch wozu die einzelheiten durchsprechen, die doch zumeist so oder so verstanden werden können: der nachweis, daſs irgend etwas in der rede verböte, sie auf den rechen- schaftsprocess zu beziehen, dem Eratosthenes sich freiwillig unterwerfen wollte, kann getrost abgewartet werden. Es war dem Lysias gewiſs darum zu tun, seinen bruder zu rächen; das war seine pflicht, und es war ein abscheuliches verbrechen an ihm begangen. er nahm die gelegenheit wahr, die sich ihm bot, und man wird ihm bei seiner politischen richtung nicht verargen, daſs er aus dem hasse gegen die Dreiſsig so viel wie möglich capital für seine anklage herausschlug. aber die rede will allerdings mehr: sie greift durchaus nicht etwa die Dreiſsig um des Eratosthenes willen an, sondern viel eher umgekehrt. die bedeutung der rede für die zeitgeschichte liegt

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/231>, abgerufen am 20.04.2024.