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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 10. Diobelie.
können, und durch seinen terrorismus, der den krieg bis aufs äusserste
fortführte, hat er seinem vaterlande schwer geschadet, aber wie er selbst
sein leben für die demokratie gelassen hat, so verdient er für die ein-
führung der diobelie mehr als entschuldigung, verdient er anerkennung:
das Erechtheion haben die Athener auch in der schlimmen zeit gebaut,
und seine pracht scheint auch zunächst mit dem staatlichen elende übel
zu contrastiren. aber es ist mit recht bemerkt worden, dass der staat
den bau nur fortführte um der brotlosen bevölkerung, hier zumeist der
nichtbürgerlichen, arbeit zu schaffen, die schlecht genug bezahlt ward.
eine massregel, die von einem wirtschaftlichen notstande aufgezwängt wird,
ist kein muster für normale zeiten, sie muss lediglich aus dem zustande
erklärt und beurteilt werden, der sie erzeugt hat.

Ganz anders muss der staatsmann beurteilt werden, der den bürger
als bürger in ruhigen zeiten mit staatsgeldern füttern will. der gedanken-
gang ist auch da, wie es bei den radikalen zu sein pflegt, sehr schön
logisch. der staat ist eine actiengesellschaft und verteilt die dividenden
an die actionäre. so hatte schon 483 eine verteilung der überschüsse
aus den pachtgeldern der bergwerke an die bürger statt finden sollen,
und wenn das damals von Themistokles verhindert worden ist, so wird
es doch zu andern zeiten sowol in der sammtgemeinde wie in den demen
vorgekommen sein.4) die theorika des Eubulos gehören sachlich in
diese kategorie, und Demosthenes hat diese vergeudung der staatsmittel
bitter empfunden, wenn er auch demagoge genug war sie zu zeiten zu
verteidigen.5) wenn er die rede peri suntaxeos nicht selbst verfasst
haben sollte, (was ich glaube, wenn ich's auch nicht beweisen kann), so
ist diese doch keineswegs von dem dummen rhetor, dem man sie seit

4) Plaut. Aulul. 107 noster nostrae qui est magister curiae dividere argenti
dixit nummos in viros
. da das original aus der zeit nach 279 stammt, kann man
an einen phratriarchen schwerlich denken, wird also annehmen, dass der demarch
gemeint ist.
5) In der vierten Philippika 35 ffg. die ächtheit dieser rede und der wider
den brief des Philippos mache ich mich anheischig zu erweisen; nur sind es aller-
dings keine reden, sondern politische flugschriften, die letzte ein ebenso geschickter
wie perfider zeitungsartikel, bestimmt, den eindruck zu verwischen, den der sachlich
und formell meisterhafte brief des Philippos machen musste. die moderne verwer-
fung ist eine ausgeburt der fanatischen bewunderung, die dem redner staatsmann
und menschen Demosthenes nur oratorisch und moralisch unsträfliche meisterwerke
zuzuschreiben wagte. Weil hätte die reden nur energisch als geschichtliche auf den
moment berechnete erzeugnisse anfassen sollen, dann würde er sie zuversichtlich
für ächt erklärt haben.

II. 10. Diobelie.
können, und durch seinen terrorismus, der den krieg bis aufs äuſserste
fortführte, hat er seinem vaterlande schwer geschadet, aber wie er selbst
sein leben für die demokratie gelassen hat, so verdient er für die ein-
führung der diobelie mehr als entschuldigung, verdient er anerkennung:
das Erechtheion haben die Athener auch in der schlimmen zeit gebaut,
und seine pracht scheint auch zunächst mit dem staatlichen elende übel
zu contrastiren. aber es ist mit recht bemerkt worden, daſs der staat
den bau nur fortführte um der brotlosen bevölkerung, hier zumeist der
nichtbürgerlichen, arbeit zu schaffen, die schlecht genug bezahlt ward.
eine maſsregel, die von einem wirtschaftlichen notstande aufgezwängt wird,
ist kein muster für normale zeiten, sie muſs lediglich aus dem zustande
erklärt und beurteilt werden, der sie erzeugt hat.

Ganz anders muſs der staatsmann beurteilt werden, der den bürger
als bürger in ruhigen zeiten mit staatsgeldern füttern will. der gedanken-
gang ist auch da, wie es bei den radikalen zu sein pflegt, sehr schön
logisch. der staat ist eine actiengesellschaft und verteilt die dividenden
an die actionäre. so hatte schon 483 eine verteilung der überschüsse
aus den pachtgeldern der bergwerke an die bürger statt finden sollen,
und wenn das damals von Themistokles verhindert worden ist, so wird
es doch zu andern zeiten sowol in der sammtgemeinde wie in den demen
vorgekommen sein.4) die theorika des Eubulos gehören sachlich in
diese kategorie, und Demosthenes hat diese vergeudung der staatsmittel
bitter empfunden, wenn er auch demagoge genug war sie zu zeiten zu
verteidigen.5) wenn er die rede πεϱὶ συντάξεως nicht selbst verfaſst
haben sollte, (was ich glaube, wenn ich’s auch nicht beweisen kann), so
ist diese doch keineswegs von dem dummen rhetor, dem man sie seit

4) Plaut. Aulul. 107 noster nostrae qui est magister curiae dividere argenti
dixit nummos in viros
. da das original aus der zeit nach 279 stammt, kann man
an einen phratriarchen schwerlich denken, wird also annehmen, daſs der demarch
gemeint ist.
5) In der vierten Philippika 35 ffg. die ächtheit dieser rede und der wider
den brief des Philippos mache ich mich anheischig zu erweisen; nur sind es aller-
dings keine reden, sondern politische flugschriften, die letzte ein ebenso geschickter
wie perfider zeitungsartikel, bestimmt, den eindruck zu verwischen, den der sachlich
und formell meisterhafte brief des Philippos machen muſste. die moderne verwer-
fung ist eine ausgeburt der fanatischen bewunderung, die dem redner staatsmann
und menschen Demosthenes nur oratorisch und moralisch unsträfliche meisterwerke
zuzuschreiben wagte. Weil hätte die reden nur energisch als geschichtliche auf den
moment berechnete erzeugnisse anfassen sollen, dann würde er sie zuversichtlich
für ächt erklärt haben.
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[215/0225] II. 10. Diobelie. können, und durch seinen terrorismus, der den krieg bis aufs äuſserste fortführte, hat er seinem vaterlande schwer geschadet, aber wie er selbst sein leben für die demokratie gelassen hat, so verdient er für die ein- führung der diobelie mehr als entschuldigung, verdient er anerkennung: das Erechtheion haben die Athener auch in der schlimmen zeit gebaut, und seine pracht scheint auch zunächst mit dem staatlichen elende übel zu contrastiren. aber es ist mit recht bemerkt worden, daſs der staat den bau nur fortführte um der brotlosen bevölkerung, hier zumeist der nichtbürgerlichen, arbeit zu schaffen, die schlecht genug bezahlt ward. eine maſsregel, die von einem wirtschaftlichen notstande aufgezwängt wird, ist kein muster für normale zeiten, sie muſs lediglich aus dem zustande erklärt und beurteilt werden, der sie erzeugt hat. Ganz anders muſs der staatsmann beurteilt werden, der den bürger als bürger in ruhigen zeiten mit staatsgeldern füttern will. der gedanken- gang ist auch da, wie es bei den radikalen zu sein pflegt, sehr schön logisch. der staat ist eine actiengesellschaft und verteilt die dividenden an die actionäre. so hatte schon 483 eine verteilung der überschüsse aus den pachtgeldern der bergwerke an die bürger statt finden sollen, und wenn das damals von Themistokles verhindert worden ist, so wird es doch zu andern zeiten sowol in der sammtgemeinde wie in den demen vorgekommen sein. 4) die theorika des Eubulos gehören sachlich in diese kategorie, und Demosthenes hat diese vergeudung der staatsmittel bitter empfunden, wenn er auch demagoge genug war sie zu zeiten zu verteidigen. 5) wenn er die rede πεϱὶ συντάξεως nicht selbst verfaſst haben sollte, (was ich glaube, wenn ich’s auch nicht beweisen kann), so ist diese doch keineswegs von dem dummen rhetor, dem man sie seit 4) Plaut. Aulul. 107 noster nostrae qui est magister curiae dividere argenti dixit nummos in viros. da das original aus der zeit nach 279 stammt, kann man an einen phratriarchen schwerlich denken, wird also annehmen, daſs der demarch gemeint ist. 5) In der vierten Philippika 35 ffg. die ächtheit dieser rede und der wider den brief des Philippos mache ich mich anheischig zu erweisen; nur sind es aller- dings keine reden, sondern politische flugschriften, die letzte ein ebenso geschickter wie perfider zeitungsartikel, bestimmt, den eindruck zu verwischen, den der sachlich und formell meisterhafte brief des Philippos machen muſste. die moderne verwer- fung ist eine ausgeburt der fanatischen bewunderung, die dem redner staatsmann und menschen Demosthenes nur oratorisch und moralisch unsträfliche meisterwerke zuzuschreiben wagte. Weil hätte die reden nur energisch als geschichtliche auf den moment berechnete erzeugnisse anfassen sollen, dann würde er sie zuversichtlich für ächt erklärt haben.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/225>, abgerufen am 23.04.2024.