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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Herodotos. Thukydides.
war die geistige und politische freiheit, isonomie, isegorie. so hatte
die weltgeschichte einen inhalt, die entwickelung ein ziel: er überschaute
sie mit dem auge des tragischen dichters. der Ionier, der den glauben
der väter verloren hatte, hatte einen reineren glauben sich selbst er-
worben und den gott in der geschichte wiedergefunden. aber das war
sein gott. in seinem eigenen geiste liess er die zeiten sich bespiegeln
(was überhaupt erst den historiker macht). in sofern steht er dem
Hekataios und seinen sophistischen zeitgenossen ganz gleich. es ist
seine subjective erkundung, von der er rechenschaft ablegt, es ist istorie
im ionischen sinne noch viel mehr als historie in unserm. er ist kein
regestenfabrikant und kein chronikschreiber; er hält von der acten-
forschung nichts und traut den augen lieber als den ohren. die kritik,
deren er bei der verarbeitung von unzähligen erkundungen nicht ent-
raten kann, ist schlechterdings nichts als sein subjectives für wahr oder
wahrscheinlich halten. panton metron anthropos, d. h. Erodotos,
gilt für ihn praktisch genau so wie theoretisch für Protagoras. dieser
Herodotos aber überkam hier eine anzahl sagen, dort novellen, hier ein
genealogisch-chronologisches gebäude, dort schaute er wunderbare denk-
male, zu denen man ihm die aitia berichtete. wie sollte er sich helfen?
was er erkundete, war eine unübersehbare menge von einzelnen ge-
schichten ohne ordnung, sich viel häufiger widersprechend als ergänzend.
wie sollte er sie bewältigen? was ihm das ordnende prinzip war, war
der gedanke, den er in der weltgeschichte fand: sein eigener nous voll-
zog die diakosmesis; ein anderer würde in einem chronologischen ge-
rüste oder einer logischen disposition ein objectives prinzip gesucht haben.
das einzelne aber beurteilt und verteilt er auch nach seinem subjectiven
ermessen, wo ihm denn bald die skepsis des rationellen Ioniers, bald
der zwillingsbruder des rationalismus, der aberglaube, in den nacken
schlägt. so ist sein buch, so bezaubernd es auf uns durch die naivetät
wirkt, die wir in ihm finden, im grunde durchaus nicht naiv gemeint,
sondern wird in allem durch seine individualität bedingt. er steht zu
der geschichte wie die grossen physiker Ioniens zu der natur. auch sie
geben eine doppelte istorie, die objective darlegung des unendlich vielen
das sie erkundet haben, und die subjective antwort, die sie aus sich auf
die rätsel des lebens gefunden haben. vielleicht wagt jemand zu sagen,
das wäre eine sehr kindliche vorstufe zu der erhabenheit wahrer wissen-
schaftlichkeit, die heute zu tage regiere, seit die methode gefunden sei.
ich aber meine, mit aller methode haben wir es nicht weiter gebracht.
die wissenschaft als idee ist freilich weder in Hippokrates noch in

Herodotos. Thukydides.
war die geistige und politische freiheit, ἰσονομίη, ἰσηγοϱίη. so hatte
die weltgeschichte einen inhalt, die entwickelung ein ziel: er überschaute
sie mit dem auge des tragischen dichters. der Ionier, der den glauben
der väter verloren hatte, hatte einen reineren glauben sich selbst er-
worben und den gott in der geschichte wiedergefunden. aber das war
sein gott. in seinem eigenen geiste lieſs er die zeiten sich bespiegeln
(was überhaupt erst den historiker macht). in sofern steht er dem
Hekataios und seinen sophistischen zeitgenossen ganz gleich. es ist
seine subjective erkundung, von der er rechenschaft ablegt, es ist ἱστοϱίη
im ionischen sinne noch viel mehr als historie in unserm. er ist kein
regestenfabrikant und kein chronikschreiber; er hält von der acten-
forschung nichts und traut den augen lieber als den ohren. die kritik,
deren er bei der verarbeitung von unzähligen erkundungen nicht ent-
raten kann, ist schlechterdings nichts als sein subjectives für wahr oder
wahrscheinlich halten. πάντων μέτϱον ἄνϑϱωπος, d. h. Ἡϱόδοτος,
gilt für ihn praktisch genau so wie theoretisch für Protagoras. dieser
Herodotos aber überkam hier eine anzahl sagen, dort novellen, hier ein
genealogisch-chronologisches gebäude, dort schaute er wunderbare denk-
male, zu denen man ihm die αἴτια berichtete. wie sollte er sich helfen?
was er erkundete, war eine unübersehbare menge von einzelnen ge-
schichten ohne ordnung, sich viel häufiger widersprechend als ergänzend.
wie sollte er sie bewältigen? was ihm das ordnende prinzip war, war
der gedanke, den er in der weltgeschichte fand: sein eigener νοῦς voll-
zog die διακόσμησις; ein anderer würde in einem chronologischen ge-
rüste oder einer logischen disposition ein objectives prinzip gesucht haben.
das einzelne aber beurteilt und verteilt er auch nach seinem subjectiven
ermessen, wo ihm denn bald die skepsis des rationellen Ioniers, bald
der zwillingsbruder des rationalismus, der aberglaube, in den nacken
schlägt. so ist sein buch, so bezaubernd es auf uns durch die naivetät
wirkt, die wir in ihm finden, im grunde durchaus nicht naiv gemeint,
sondern wird in allem durch seine individualität bedingt. er steht zu
der geschichte wie die groſsen physiker Ioniens zu der natur. auch sie
geben eine doppelte ἱστοϱίη, die objective darlegung des unendlich vielen
das sie erkundet haben, und die subjective antwort, die sie aus sich auf
die rätsel des lebens gefunden haben. vielleicht wagt jemand zu sagen,
das wäre eine sehr kindliche vorstufe zu der erhabenheit wahrer wissen-
schaftlichkeit, die heute zu tage regiere, seit die methode gefunden sei.
ich aber meine, mit aller methode haben wir es nicht weiter gebracht.
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[11/0021] Herodotos. Thukydides. war die geistige und politische freiheit, ἰσονομίη, ἰσηγοϱίη. so hatte die weltgeschichte einen inhalt, die entwickelung ein ziel: er überschaute sie mit dem auge des tragischen dichters. der Ionier, der den glauben der väter verloren hatte, hatte einen reineren glauben sich selbst er- worben und den gott in der geschichte wiedergefunden. aber das war sein gott. in seinem eigenen geiste lieſs er die zeiten sich bespiegeln (was überhaupt erst den historiker macht). in sofern steht er dem Hekataios und seinen sophistischen zeitgenossen ganz gleich. es ist seine subjective erkundung, von der er rechenschaft ablegt, es ist ἱστοϱίη im ionischen sinne noch viel mehr als historie in unserm. er ist kein regestenfabrikant und kein chronikschreiber; er hält von der acten- forschung nichts und traut den augen lieber als den ohren. die kritik, deren er bei der verarbeitung von unzähligen erkundungen nicht ent- raten kann, ist schlechterdings nichts als sein subjectives für wahr oder wahrscheinlich halten. πάντων μέτϱον ἄνϑϱωπος, d. h. Ἡϱόδοτος, gilt für ihn praktisch genau so wie theoretisch für Protagoras. dieser Herodotos aber überkam hier eine anzahl sagen, dort novellen, hier ein genealogisch-chronologisches gebäude, dort schaute er wunderbare denk- male, zu denen man ihm die αἴτια berichtete. wie sollte er sich helfen? was er erkundete, war eine unübersehbare menge von einzelnen ge- schichten ohne ordnung, sich viel häufiger widersprechend als ergänzend. wie sollte er sie bewältigen? was ihm das ordnende prinzip war, war der gedanke, den er in der weltgeschichte fand: sein eigener νοῦς voll- zog die διακόσμησις; ein anderer würde in einem chronologischen ge- rüste oder einer logischen disposition ein objectives prinzip gesucht haben. das einzelne aber beurteilt und verteilt er auch nach seinem subjectiven ermessen, wo ihm denn bald die skepsis des rationellen Ioniers, bald der zwillingsbruder des rationalismus, der aberglaube, in den nacken schlägt. so ist sein buch, so bezaubernd es auf uns durch die naivetät wirkt, die wir in ihm finden, im grunde durchaus nicht naiv gemeint, sondern wird in allem durch seine individualität bedingt. er steht zu der geschichte wie die groſsen physiker Ioniens zu der natur. auch sie geben eine doppelte ἱστοϱίη, die objective darlegung des unendlich vielen das sie erkundet haben, und die subjective antwort, die sie aus sich auf die rätsel des lebens gefunden haben. vielleicht wagt jemand zu sagen, das wäre eine sehr kindliche vorstufe zu der erhabenheit wahrer wissen- schaftlichkeit, die heute zu tage regiere, seit die methode gefunden sei. ich aber meine, mit aller methode haben wir es nicht weiter gebracht. die wissenschaft als idee ist freilich weder in Hippokrates noch in

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/21>, abgerufen am 29.03.2024.