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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 8. Der Areopag vor Ephialtes.
fehlte (45, 4). das war in anbetracht der sehr ausgedehnten zulassung
von amendements oft gar keine einfache frage. solonisch ist die klage
also mindestens. aber um so deutlicher wird, dass sie mit dem Areopage
trotz seiner gesetzescontrolle nichts zu tun hat. sie geht eben an die
'rechtssetzer', die die gesetze aufzuzeichnen und zu bewahren haben,
also die berufenen richter darüber sind, ob ein antrag mit diesen in
widerspruch stehe. die thesmotheten haben darüber ehedem selbst,
später unter zuziehung eines volksgerichtes entschieden: das entspricht
der allgemeinen rechtsentwickelung. eine beteiligung des Areopages
ist schon deshalb nicht denkbar, weil er, um einen gesetzwidrigen be-
schluss zu hindern, eine controlle der volksversammlung hätte ausüben
müssen, d. h. eine controlle des souveränes.

Damit sind die gesetze gegen die willkür der einzelnen oder auch
des volkes geschützt. um so dringender wird die frage, wie konnten
sie denn überhaupt geändert werden, wie hat Ephialtes selbst seine
anträge durchgebracht, die die ganze verfassung umgestaltet haben?
das ist geschehen durch die epikheirotonia nomon. seit Schöll das
document gerechtfertigt hat, das in der Timokratea 20--23 steht, dürfen
wir nach dieser analogie für das fünfte jahrhundert annehmen, dass in
der ersten volksversammlung jedes jahres die gesetze selbst beraten
wurden, d. h. die anträge auf abänderung des geltenden rechtes einge-
bracht werden mussten. wie dann das volk über die behandlung ent-
schied, ob es die anträge a limine abwies oder dem rate oder einer
commission zur beratung übergab (von der überweisung an ein gericht,
was die nomothetai der Timokratea tatsächlich sind, kenne ich kein
beispiel aus dem fünften jahrhundert), das stand bei dem volke, das
nach dieser vorberatung abstimmte, genau eben so wie über jeden antrag.
die sache ist einfach und verständig geordnet, aber für den Areopag
ist kein platz. unsere geschichtliche überlieferung zeigt ihn auch nie-
mals mitwirkend bei verfassungsänderungen.

Also die dokimasie der beamten hat der Areopag an die gerichte,
die annahme der eisangelieen an das volk, die nomophylakie und über-
haupt die verwaltung an den rat der 500 verloren.

Polizei-
gewalt.
Die anekdote von Themistokles und Ephialtes zeigt ihn uns aber
auch im besitze des rechtes, einen bürger zu verhaften. dies gehört mit
zu dem allgemeinen aufsichts- und strafrecht, das der Areopag von der
urzeit her besass. er übt es in der anekdote auf den antrag eines
mitgliedes, das ein staatsgefährliches complott entdeckt haben wollte.
er ist aber ohne zweifel auch auf grund der meldungen von executiv-

II. 8. Der Areopag vor Ephialtes.
fehlte (45, 4). das war in anbetracht der sehr ausgedehnten zulassung
von amendements oft gar keine einfache frage. solonisch ist die klage
also mindestens. aber um so deutlicher wird, daſs sie mit dem Areopage
trotz seiner gesetzescontrolle nichts zu tun hat. sie geht eben an die
‘rechtssetzer’, die die gesetze aufzuzeichnen und zu bewahren haben,
also die berufenen richter darüber sind, ob ein antrag mit diesen in
widerspruch stehe. die thesmotheten haben darüber ehedem selbst,
später unter zuziehung eines volksgerichtes entschieden: das entspricht
der allgemeinen rechtsentwickelung. eine beteiligung des Areopages
ist schon deshalb nicht denkbar, weil er, um einen gesetzwidrigen be-
schluſs zu hindern, eine controlle der volksversammlung hätte ausüben
müssen, d. h. eine controlle des souveränes.

Damit sind die gesetze gegen die willkür der einzelnen oder auch
des volkes geschützt. um so dringender wird die frage, wie konnten
sie denn überhaupt geändert werden, wie hat Ephialtes selbst seine
anträge durchgebracht, die die ganze verfassung umgestaltet haben?
das ist geschehen durch die ἐπιχειϱοτονία νόμων. seit Schöll das
document gerechtfertigt hat, das in der Timokratea 20—23 steht, dürfen
wir nach dieser analogie für das fünfte jahrhundert annehmen, daſs in
der ersten volksversammlung jedes jahres die gesetze selbst beraten
wurden, d. h. die anträge auf abänderung des geltenden rechtes einge-
bracht werden muſsten. wie dann das volk über die behandlung ent-
schied, ob es die anträge a limine abwies oder dem rate oder einer
commission zur beratung übergab (von der überweisung an ein gericht,
was die νομοϑέται der Timokratea tatsächlich sind, kenne ich kein
beispiel aus dem fünften jahrhundert), das stand bei dem volke, das
nach dieser vorberatung abstimmte, genau eben so wie über jeden antrag.
die sache ist einfach und verständig geordnet, aber für den Areopag
ist kein platz. unsere geschichtliche überlieferung zeigt ihn auch nie-
mals mitwirkend bei verfassungsänderungen.

Also die dokimasie der beamten hat der Areopag an die gerichte,
die annahme der eisangelieen an das volk, die nomophylakie und über-
haupt die verwaltung an den rat der 500 verloren.

Polizei-
gewalt.
Die anekdote von Themistokles und Ephialtes zeigt ihn uns aber
auch im besitze des rechtes, einen bürger zu verhaften. dies gehört mit
zu dem allgemeinen aufsichts- und strafrecht, das der Areopag von der
urzeit her besaſs. er übt es in der anekdote auf den antrag eines
mitgliedes, das ein staatsgefährliches complott entdeckt haben wollte.
er ist aber ohne zweifel auch auf grund der meldungen von executiv-

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[194/0204] II. 8. Der Areopag vor Ephialtes. fehlte (45, 4). das war in anbetracht der sehr ausgedehnten zulassung von amendements oft gar keine einfache frage. solonisch ist die klage also mindestens. aber um so deutlicher wird, daſs sie mit dem Areopage trotz seiner gesetzescontrolle nichts zu tun hat. sie geht eben an die ‘rechtssetzer’, die die gesetze aufzuzeichnen und zu bewahren haben, also die berufenen richter darüber sind, ob ein antrag mit diesen in widerspruch stehe. die thesmotheten haben darüber ehedem selbst, später unter zuziehung eines volksgerichtes entschieden: das entspricht der allgemeinen rechtsentwickelung. eine beteiligung des Areopages ist schon deshalb nicht denkbar, weil er, um einen gesetzwidrigen be- schluſs zu hindern, eine controlle der volksversammlung hätte ausüben müssen, d. h. eine controlle des souveränes. Damit sind die gesetze gegen die willkür der einzelnen oder auch des volkes geschützt. um so dringender wird die frage, wie konnten sie denn überhaupt geändert werden, wie hat Ephialtes selbst seine anträge durchgebracht, die die ganze verfassung umgestaltet haben? das ist geschehen durch die ἐπιχειϱοτονία νόμων. seit Schöll das document gerechtfertigt hat, das in der Timokratea 20—23 steht, dürfen wir nach dieser analogie für das fünfte jahrhundert annehmen, daſs in der ersten volksversammlung jedes jahres die gesetze selbst beraten wurden, d. h. die anträge auf abänderung des geltenden rechtes einge- bracht werden muſsten. wie dann das volk über die behandlung ent- schied, ob es die anträge a limine abwies oder dem rate oder einer commission zur beratung übergab (von der überweisung an ein gericht, was die νομοϑέται der Timokratea tatsächlich sind, kenne ich kein beispiel aus dem fünften jahrhundert), das stand bei dem volke, das nach dieser vorberatung abstimmte, genau eben so wie über jeden antrag. die sache ist einfach und verständig geordnet, aber für den Areopag ist kein platz. unsere geschichtliche überlieferung zeigt ihn auch nie- mals mitwirkend bei verfassungsänderungen. Also die dokimasie der beamten hat der Areopag an die gerichte, die annahme der eisangelieen an das volk, die nomophylakie und über- haupt die verwaltung an den rat der 500 verloren. Die anekdote von Themistokles und Ephialtes zeigt ihn uns aber auch im besitze des rechtes, einen bürger zu verhaften. dies gehört mit zu dem allgemeinen aufsichts- und strafrecht, das der Areopag von der urzeit her besaſs. er übt es in der anekdote auf den antrag eines mitgliedes, das ein staatsgefährliches complott entdeckt haben wollte. er ist aber ohne zweifel auch auf grund der meldungen von executiv- Polizei- gewalt.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/204>, abgerufen am 23.04.2024.