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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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nomothesia.
gerettet hat, beseitigt. es beruhte aber auch alles auf ungenügender
einsicht in das attische staatswesen.

Formal ist zwischen einem volksbeschlusse und einem gesetze gar
kein unterschied. was das volk beschliesst, ist recht und ist gesetz.
ein jeder volksbeschluss schafft neues recht; er darf nur nicht implicite
altes recht umstossen und muss selbst auf gesetzmässigem wege zu
stande gekommen sein. darin liegt, dass der rat unter allen umständen
über den gegenstand verhandelt haben muss, mindestens so weit, dass
er ihn auf die tagesordnung gesetzt hat.7) in den meisten fällen ist
ein einzelner antragsteller vorhanden, sei es dass er ratsherr ist, sei es
dass er, dann aber im anschluss an eine ratsvorlage, im volke seinen
antrag durchgesetzt hat. daneben erscheinen im fünften jahrhundert
ad hoc eingesetzte commissionen, suggraphes. so redet man denn von
gesetzen des Perikles, Archestratos, Kannonos, und besitzen wir in dem
s. g. eleusinischen psephisma ein gesetz, das zur grösseren hälfte von
einer commission ausgearbeitet ist, aber einen nachtrag enthält, den
Lampon vor dem volke durchgebracht hat. das volk, das selbst all-
jährlich die gesetze neu beschwört, die es sich gegeben hat, sichert
diese vor verletzung und sich selbst dagegen, dass es sie nicht un-
wissentlich verletzt, durch die klage paranomon. diese gilt wesentlich
den antragstellern im rate und volke, ist aber auch einer commission
gegenüber denkbar, die einen antrag stellte. sie gehört mit ihrer
schwester, der klage ein schädliches gesetz gegeben zu haben, und den
klagen wegen amtsmisbrauch wider die vorsitzenden des rates und volkes
vor die thesmotheten (59, 2). die eidliche versicherung, sie erheben
zu wollen (upomosia), musste in der versammlung geleistet werden und
besass dann suspensive kraft. jeder bürger, der ja jedes unrecht (para-
nomon) das irgend wem geschah zu ahnden berechtigt war (timorein
to adikoumeno), hatte vollends das recht den geschädigten gesetzen bei-
zustehen. er tat das wie immer so auch hier durch die anrufung des
gerichtes, das hiess, er belangte den schuldigen bei den thesmotheten.
dies tun zu wollen, erklärte er vor dem volke. das ist die upomosia,
ein analogon zur aphairesis eis eleutherian. es ist gar nicht anders
denkbar, als dass dieses recht, sogar schon in dieser form, bestanden
haben muss, seit es rat und volk gab: war doch ein hauptanlass zu
klagen wegen gesetzwidrigkeit der, dass der vorbereitende ratsbeschluss

7) Die nomothesie rechnet der oligarch der Pol. Ath. 3, 2 zu den regelmässigen
amtspflichten des rates.
v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 13

νομοϑεσία.
gerettet hat, beseitigt. es beruhte aber auch alles auf ungenügender
einsicht in das attische staatswesen.

Formal ist zwischen einem volksbeschlusse und einem gesetze gar
kein unterschied. was das volk beschlieſst, ist recht und ist gesetz.
ein jeder volksbeschluſs schafft neues recht; er darf nur nicht implicite
altes recht umstoſsen und muſs selbst auf gesetzmäſsigem wege zu
stande gekommen sein. darin liegt, daſs der rat unter allen umständen
über den gegenstand verhandelt haben muſs, mindestens so weit, daſs
er ihn auf die tagesordnung gesetzt hat.7) in den meisten fällen ist
ein einzelner antragsteller vorhanden, sei es daſs er ratsherr ist, sei es
daſs er, dann aber im anschluſs an eine ratsvorlage, im volke seinen
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ad hoc eingesetzte commissionen, συγγϱαφῆς. so redet man denn von
gesetzen des Perikles, Archestratos, Kannonos, und besitzen wir in dem
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einer commission ausgearbeitet ist, aber einen nachtrag enthält, den
Lampon vor dem volke durchgebracht hat. das volk, das selbst all-
jährlich die gesetze neu beschwört, die es sich gegeben hat, sichert
diese vor verletzung und sich selbst dagegen, daſs es sie nicht un-
wissentlich verletzt, durch die klage παϱανόμων. diese gilt wesentlich
den antragstellern im rate und volke, ist aber auch einer commission
gegenüber denkbar, die einen antrag stellte. sie gehört mit ihrer
schwester, der klage ein schädliches gesetz gegeben zu haben, und den
klagen wegen amtsmisbrauch wider die vorsitzenden des rates und volkes
vor die thesmotheten (59, 2). die eidliche versicherung, sie erheben
zu wollen (ὑπωμοσία), muſste in der versammlung geleistet werden und
besaſs dann suspensive kraft. jeder bürger, der ja jedes unrecht (παϱά-
νομον) das irgend wem geschah zu ahnden berechtigt war (τιμωϱεῖν
τῷ ἀδικουμένῳ), hatte vollends das recht den geschädigten gesetzen bei-
zustehen. er tat das wie immer so auch hier durch die anrufung des
gerichtes, das hieſs, er belangte den schuldigen bei den thesmotheten.
dies tun zu wollen, erklärte er vor dem volke. das ist die ὑπωμοσία,
ein analogon zur ἀφαίϱεσις εἰς ἐλευϑεϱίαν. es ist gar nicht anders
denkbar, als daſs dieses recht, sogar schon in dieser form, bestanden
haben muſs, seit es rat und volk gab: war doch ein hauptanlaſs zu
klagen wegen gesetzwidrigkeit der, daſs der vorbereitende ratsbeschluſs

7) Die nomothesie rechnet der oligarch der Πολ. Αϑ. 3, 2 zu den regelmäſsigen
amtspflichten des rates.
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[193/0203] νομοϑεσία. gerettet hat, beseitigt. es beruhte aber auch alles auf ungenügender einsicht in das attische staatswesen. Formal ist zwischen einem volksbeschlusse und einem gesetze gar kein unterschied. was das volk beschlieſst, ist recht und ist gesetz. ein jeder volksbeschluſs schafft neues recht; er darf nur nicht implicite altes recht umstoſsen und muſs selbst auf gesetzmäſsigem wege zu stande gekommen sein. darin liegt, daſs der rat unter allen umständen über den gegenstand verhandelt haben muſs, mindestens so weit, daſs er ihn auf die tagesordnung gesetzt hat. 7) in den meisten fällen ist ein einzelner antragsteller vorhanden, sei es daſs er ratsherr ist, sei es daſs er, dann aber im anschluſs an eine ratsvorlage, im volke seinen antrag durchgesetzt hat. daneben erscheinen im fünften jahrhundert ad hoc eingesetzte commissionen, συγγϱαφῆς. so redet man denn von gesetzen des Perikles, Archestratos, Kannonos, und besitzen wir in dem s. g. eleusinischen psephisma ein gesetz, das zur gröſseren hälfte von einer commission ausgearbeitet ist, aber einen nachtrag enthält, den Lampon vor dem volke durchgebracht hat. das volk, das selbst all- jährlich die gesetze neu beschwört, die es sich gegeben hat, sichert diese vor verletzung und sich selbst dagegen, daſs es sie nicht un- wissentlich verletzt, durch die klage παϱανόμων. diese gilt wesentlich den antragstellern im rate und volke, ist aber auch einer commission gegenüber denkbar, die einen antrag stellte. sie gehört mit ihrer schwester, der klage ein schädliches gesetz gegeben zu haben, und den klagen wegen amtsmisbrauch wider die vorsitzenden des rates und volkes vor die thesmotheten (59, 2). die eidliche versicherung, sie erheben zu wollen (ὑπωμοσία), muſste in der versammlung geleistet werden und besaſs dann suspensive kraft. jeder bürger, der ja jedes unrecht (παϱά- νομον) das irgend wem geschah zu ahnden berechtigt war (τιμωϱεῖν τῷ ἀδικουμένῳ), hatte vollends das recht den geschädigten gesetzen bei- zustehen. er tat das wie immer so auch hier durch die anrufung des gerichtes, das hieſs, er belangte den schuldigen bei den thesmotheten. dies tun zu wollen, erklärte er vor dem volke. das ist die ὑπωμοσία, ein analogon zur ἀφαίϱεσις εἰς ἐλευϑεϱίαν. es ist gar nicht anders denkbar, als daſs dieses recht, sogar schon in dieser form, bestanden haben muſs, seit es rat und volk gab: war doch ein hauptanlaſs zu klagen wegen gesetzwidrigkeit der, daſs der vorbereitende ratsbeschluſs 7) Die nomothesie rechnet der oligarch der Πολ. Αϑ. 3, 2 zu den regelmäſsigen amtspflichten des rates. v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 13

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/203>, abgerufen am 23.04.2024.