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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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epitheta und patria.
geschichte Athens schlechthin unvermeidlichen erkennen. die partei des
Ephialtes hat gesiegt, und sie hat selbstverständlich sich nicht selbst als
revolutionär betrachtet, musste also was sie dem Areopag nahm als von
rechtswegen diesem gar nicht zustehend bezeichnen, so dass sie nur
einen übergriff beseitigt hätte. aber die consequenz haben sie zunächst
glücklicherweise nicht gehabt, nun auch die ganze geschichtliche tradition
so umzugestalten, dass der Areopag nur noch als blutgerichtshof in ihr
erschiene. so stellt es zwar 458 der dichter in den Eumeniden dar,
der die stiftung selbst berichtet und nur von dem blutgerichtshof handelt.
und später muss diese tendenz noch mächtiger geworden sein, sonst
hätte die von Plutarch behandelte streitfrage nicht entstehen können, ob
der Areopag wirklich vorsolnisch wäre.2) aber die Atthis, der Aristoteles
folgt, ist zum glück noch unbefangen genug, die ächte tradition über
die alte zeit festzuhalten, trotzdem sie die officielle version über Ephialtes
auch gibt. den gedanken fasst aber verwirft man bald, dass etwa der
bericht über das eigentliche gesetz des Ephialtes (25, 2) mit seiner
umgebung aus oligarchischer tendenziöser überlieferung stammte. die
oligarchen hatten ja nicht die entfernteste veranlassung, den Ephialtes
so zu rechtfertigen, wie es die bezeichnung epitheta tut; ihre absicht
gieng mindestens dem namen nach darauf, die alte verfassung herzustellen
und die demokratischen neuerungen zu beseitigen. folglich ist diese
terminologie ihrem inhalte nach demokratisch und passt für die Atthis,
nicht für Theramenes.

Die verfassungsänderungen von 462 haben einen so starken erfolg
gebabt, dass niemals, selbst nicht von den Dreissig, die diese gesetze selbst
beseitigten, ein ernsthafter versuch praktisch gemacht ist, den alten Areopag
wieder herzustellen, wenigstens nicht vor Demetrios von Phaleron. so
ist es denn sehr schwierig zu erkennen, was denn eigentlich in den
gesetzen des Ephialtes gestanden hat, und die directe überlieferung ver-
sagt vollkommen. seit Ephialtes ist der Areopag fast nur noch ein blut-
gerichtshof; vorher hatte er eine in der ganzen politik ausschlaggebende
stellung, aber diese beruhte nicht auf bestimmten gesetzlich fixirten
rechten, konnte ihm also auch nicht durch gesetze direct genommen
werden. genommen müssen ihm die rechte sein, die er von alters her
geübt hatte; aber eben über sie hört man zumeist nur etwas so vages
wie skhedon apanton kurios, oder phulax kai episkopos tes politeias.

2) Aufgeworfen war diese schon vor Aristoteles in der ersten hälfte des vierten
jahrhunderts. vgl. oben I 53 anm. 21.

ἐπίϑετα und πάτϱια.
geschichte Athens schlechthin unvermeidlichen erkennen. die partei des
Ephialtes hat gesiegt, und sie hat selbstverständlich sich nicht selbst als
revolutionär betrachtet, muſste also was sie dem Areopag nahm als von
rechtswegen diesem gar nicht zustehend bezeichnen, so daſs sie nur
einen übergriff beseitigt hätte. aber die consequenz haben sie zunächst
glücklicherweise nicht gehabt, nun auch die ganze geschichtliche tradition
so umzugestalten, daſs der Areopag nur noch als blutgerichtshof in ihr
erschiene. so stellt es zwar 458 der dichter in den Eumeniden dar,
der die stiftung selbst berichtet und nur von dem blutgerichtshof handelt.
und später muſs diese tendenz noch mächtiger geworden sein, sonst
hätte die von Plutarch behandelte streitfrage nicht entstehen können, ob
der Areopag wirklich vorsolnisch wäre.2) aber die Atthis, der Aristoteles
folgt, ist zum glück noch unbefangen genug, die ächte tradition über
die alte zeit festzuhalten, trotzdem sie die officielle version über Ephialtes
auch gibt. den gedanken faſst aber verwirft man bald, daſs etwa der
bericht über das eigentliche gesetz des Ephialtes (25, 2) mit seiner
umgebung aus oligarchischer tendenziöser überlieferung stammte. die
oligarchen hatten ja nicht die entfernteste veranlassung, den Ephialtes
so zu rechtfertigen, wie es die bezeichnung ἐπίϑετα tut; ihre absicht
gieng mindestens dem namen nach darauf, die alte verfassung herzustellen
und die demokratischen neuerungen zu beseitigen. folglich ist diese
terminologie ihrem inhalte nach demokratisch und paſst für die Atthis,
nicht für Theramenes.

Die verfassungsänderungen von 462 haben einen so starken erfolg
gebabt, daſs niemals, selbst nicht von den Dreiſsig, die diese gesetze selbst
beseitigten, ein ernsthafter versuch praktisch gemacht ist, den alten Areopag
wieder herzustellen, wenigstens nicht vor Demetrios von Phaleron. so
ist es denn sehr schwierig zu erkennen, was denn eigentlich in den
gesetzen des Ephialtes gestanden hat, und die directe überlieferung ver-
sagt vollkommen. seit Ephialtes ist der Areopag fast nur noch ein blut-
gerichtshof; vorher hatte er eine in der ganzen politik ausschlaggebende
stellung, aber diese beruhte nicht auf bestimmten gesetzlich fixirten
rechten, konnte ihm also auch nicht durch gesetze direct genommen
werden. genommen müssen ihm die rechte sein, die er von alters her
geübt hatte; aber eben über sie hört man zumeist nur etwas so vages
wie σχεδὸν ἁπάντων κύϱιος, oder φύλαξ καὶ ἐπίσκοπος τῆς πολιτείας.

2) Aufgeworfen war diese schon vor Aristoteles in der ersten hälfte des vierten
jahrhunderts. vgl. oben I 53 anm. 21.
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[187/0197] ἐπίϑετα und πάτϱια. geschichte Athens schlechthin unvermeidlichen erkennen. die partei des Ephialtes hat gesiegt, und sie hat selbstverständlich sich nicht selbst als revolutionär betrachtet, muſste also was sie dem Areopag nahm als von rechtswegen diesem gar nicht zustehend bezeichnen, so daſs sie nur einen übergriff beseitigt hätte. aber die consequenz haben sie zunächst glücklicherweise nicht gehabt, nun auch die ganze geschichtliche tradition so umzugestalten, daſs der Areopag nur noch als blutgerichtshof in ihr erschiene. so stellt es zwar 458 der dichter in den Eumeniden dar, der die stiftung selbst berichtet und nur von dem blutgerichtshof handelt. und später muſs diese tendenz noch mächtiger geworden sein, sonst hätte die von Plutarch behandelte streitfrage nicht entstehen können, ob der Areopag wirklich vorsolnisch wäre. 2) aber die Atthis, der Aristoteles folgt, ist zum glück noch unbefangen genug, die ächte tradition über die alte zeit festzuhalten, trotzdem sie die officielle version über Ephialtes auch gibt. den gedanken faſst aber verwirft man bald, daſs etwa der bericht über das eigentliche gesetz des Ephialtes (25, 2) mit seiner umgebung aus oligarchischer tendenziöser überlieferung stammte. die oligarchen hatten ja nicht die entfernteste veranlassung, den Ephialtes so zu rechtfertigen, wie es die bezeichnung ἐπίϑετα tut; ihre absicht gieng mindestens dem namen nach darauf, die alte verfassung herzustellen und die demokratischen neuerungen zu beseitigen. folglich ist diese terminologie ihrem inhalte nach demokratisch und paſst für die Atthis, nicht für Theramenes. Die verfassungsänderungen von 462 haben einen so starken erfolg gebabt, daſs niemals, selbst nicht von den Dreiſsig, die diese gesetze selbst beseitigten, ein ernsthafter versuch praktisch gemacht ist, den alten Areopag wieder herzustellen, wenigstens nicht vor Demetrios von Phaleron. so ist es denn sehr schwierig zu erkennen, was denn eigentlich in den gesetzen des Ephialtes gestanden hat, und die directe überlieferung ver- sagt vollkommen. seit Ephialtes ist der Areopag fast nur noch ein blut- gerichtshof; vorher hatte er eine in der ganzen politik ausschlaggebende stellung, aber diese beruhte nicht auf bestimmten gesetzlich fixirten rechten, konnte ihm also auch nicht durch gesetze direct genommen werden. genommen müssen ihm die rechte sein, die er von alters her geübt hatte; aber eben über sie hört man zumeist nur etwas so vages wie σχεδὸν ἁπάντων κύϱιος, oder φύλαξ καὶ ἐπίσκοπος τῆς πολιτείας. 2) Aufgeworfen war diese schon vor Aristoteles in der ersten hälfte des vierten jahrhunderts. vgl. oben I 53 anm. 21.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/197>, abgerufen am 18.04.2024.