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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Gleichheit der phylen und kreise.
drei provinzen an steuercapital und bevölkerung gleich zu machen;
selbst dann würde die einteilung für die wirtschaftliche übermacht be-
weisen, die trotz den landfreundlichen massnahmen der tyrannis die
hauptstadt gewonnen hatte. die demokratie hat diesen prozess mit oder
ohne absicht ungemein beschleunigt, denn in den meisten phylen und
so überhaupt in der bürgerschaft überwiegen die angehörigen der stadt-
provinz relativ ganz bedeutend. man sollte zwar meinen, das verhältnis
der demoten könnte sich gar nicht verschieben, weil trotz dem wechsel
des wohnsitzes die gemeindezugehörigkeit immer weiter vererbt wird.
aber das gilt nur in abstracto. wenn ein bauerndorf im gebirge ver-
ödet, so mögen sich seine bewohner zunächst in die stadt ziehen und
sich ein brot suchen; eine menge von ihnen wird schon sogleich aus-
wandern. die kleruchien des fünften jahrhunderts haben sehr viele bürger
hinausgelockt, die gewiss zum teile dem vaterlande verloren gegangen
sind; im vierten sind athenische söldner in fremdem dienste recht zahl-
reich. aber die demokratie vermag auch mit allen largitionen nicht zu
verhindern, dass die verarmte bevölkerung keinen hausstand gründet
oder keine legitime nachkommenschaft erzeugt, und so gehen diese ge-
meinden an bevölkerung zurück. andererseits ist die vermehrung der
bürgerschaft durch die aufnahme von fremden und metöken recht stark
gewesen und vorwiegend den städtischen gemeinden zu gute gekommen.
da erwiesen ist, dass die metöken auf verhältnismässig sehr wenige fast
ausschliesslich städtische gemeinden beschränkt waren, ist der schluss unab-
weisbar, dass das gleiche für die neubürger gilt, denen das privileg die
wahl des demos freistellte. wer auf unrechtmässigem wege sich in die
bürgerschaft einschleichen wollte, mochte sich nach Halimus oder zu
den Titakiden wenden: der reiche kaufmann des hafens, dem das volk
das bürgerrecht verlieh, kaufte sich dort ein haus und trat in die ge-
meinde des Peiraieus. so ist die Aiantis tatsächlich schwächer als die
übrigen phylen geworden, weil das nordöstliche bergland verödete und
ihr städtischer demos Phaleron seit Themistokles verkam: zu Kleisthenes
zeit muss gerade dort das regste leben geherrscht haben.

Die organisation hätte eine dauernde ausgleichende kontrolle des
staates erfordert. diese ist aber nicht eingetreten, es sei denn durch
die für das ganze unwesentliche errichtung neuer gemeinden. 307 schritt
man freilich zu der schaffung zweier neuer phylen, aber die art, wie
man diese schuf, lehrt deutlich, dass die kleisthenische ordnung nur
noch als division des volkes durch zehn erschien, die man mit der
zwölftelung vertauschte. auf die kreise und die provinzen hat man weder

v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 11

Gleichheit der phylen und kreise.
drei provinzen an steuercapital und bevölkerung gleich zu machen;
selbst dann würde die einteilung für die wirtschaftliche übermacht be-
weisen, die trotz den landfreundlichen maſsnahmen der tyrannis die
hauptstadt gewonnen hatte. die demokratie hat diesen prozeſs mit oder
ohne absicht ungemein beschleunigt, denn in den meisten phylen und
so überhaupt in der bürgerschaft überwiegen die angehörigen der stadt-
provinz relativ ganz bedeutend. man sollte zwar meinen, das verhältnis
der demoten könnte sich gar nicht verschieben, weil trotz dem wechsel
des wohnsitzes die gemeindezugehörigkeit immer weiter vererbt wird.
aber das gilt nur in abstracto. wenn ein bauerndorf im gebirge ver-
ödet, so mögen sich seine bewohner zunächst in die stadt ziehen und
sich ein brot suchen; eine menge von ihnen wird schon sogleich aus-
wandern. die kleruchien des fünften jahrhunderts haben sehr viele bürger
hinausgelockt, die gewiſs zum teile dem vaterlande verloren gegangen
sind; im vierten sind athenische söldner in fremdem dienste recht zahl-
reich. aber die demokratie vermag auch mit allen largitionen nicht zu
verhindern, daſs die verarmte bevölkerung keinen hausstand gründet
oder keine legitime nachkommenschaft erzeugt, und so gehen diese ge-
meinden an bevölkerung zurück. andererseits ist die vermehrung der
bürgerschaft durch die aufnahme von fremden und metöken recht stark
gewesen und vorwiegend den städtischen gemeinden zu gute gekommen.
da erwiesen ist, daſs die metöken auf verhältnismäſsig sehr wenige fast
ausschlieſslich städtische gemeinden beschränkt waren, ist der schluſs unab-
weisbar, daſs das gleiche für die neubürger gilt, denen das privileg die
wahl des demos freistellte. wer auf unrechtmäſsigem wege sich in die
bürgerschaft einschleichen wollte, mochte sich nach Halimus oder zu
den Titakiden wenden: der reiche kaufmann des hafens, dem das volk
das bürgerrecht verlieh, kaufte sich dort ein haus und trat in die ge-
meinde des Peiraieus. so ist die Aiantis tatsächlich schwächer als die
übrigen phylen geworden, weil das nordöstliche bergland verödete und
ihr städtischer demos Phaleron seit Themistokles verkam: zu Kleisthenes
zeit muſs gerade dort das regste leben geherrscht haben.

Die organisation hätte eine dauernde ausgleichende kontrolle des
staates erfordert. diese ist aber nicht eingetreten, es sei denn durch
die für das ganze unwesentliche errichtung neuer gemeinden. 307 schritt
man freilich zu der schaffung zweier neuer phylen, aber die art, wie
man diese schuf, lehrt deutlich, daſs die kleisthenische ordnung nur
noch als division des volkes durch zehn erschien, die man mit der
zwölftelung vertauschte. auf die kreise und die provinzen hat man weder

v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 11
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[161/0171] Gleichheit der phylen und kreise. drei provinzen an steuercapital und bevölkerung gleich zu machen; selbst dann würde die einteilung für die wirtschaftliche übermacht be- weisen, die trotz den landfreundlichen maſsnahmen der tyrannis die hauptstadt gewonnen hatte. die demokratie hat diesen prozeſs mit oder ohne absicht ungemein beschleunigt, denn in den meisten phylen und so überhaupt in der bürgerschaft überwiegen die angehörigen der stadt- provinz relativ ganz bedeutend. man sollte zwar meinen, das verhältnis der demoten könnte sich gar nicht verschieben, weil trotz dem wechsel des wohnsitzes die gemeindezugehörigkeit immer weiter vererbt wird. aber das gilt nur in abstracto. wenn ein bauerndorf im gebirge ver- ödet, so mögen sich seine bewohner zunächst in die stadt ziehen und sich ein brot suchen; eine menge von ihnen wird schon sogleich aus- wandern. die kleruchien des fünften jahrhunderts haben sehr viele bürger hinausgelockt, die gewiſs zum teile dem vaterlande verloren gegangen sind; im vierten sind athenische söldner in fremdem dienste recht zahl- reich. aber die demokratie vermag auch mit allen largitionen nicht zu verhindern, daſs die verarmte bevölkerung keinen hausstand gründet oder keine legitime nachkommenschaft erzeugt, und so gehen diese ge- meinden an bevölkerung zurück. andererseits ist die vermehrung der bürgerschaft durch die aufnahme von fremden und metöken recht stark gewesen und vorwiegend den städtischen gemeinden zu gute gekommen. da erwiesen ist, daſs die metöken auf verhältnismäſsig sehr wenige fast ausschlieſslich städtische gemeinden beschränkt waren, ist der schluſs unab- weisbar, daſs das gleiche für die neubürger gilt, denen das privileg die wahl des demos freistellte. wer auf unrechtmäſsigem wege sich in die bürgerschaft einschleichen wollte, mochte sich nach Halimus oder zu den Titakiden wenden: der reiche kaufmann des hafens, dem das volk das bürgerrecht verlieh, kaufte sich dort ein haus und trat in die ge- meinde des Peiraieus. so ist die Aiantis tatsächlich schwächer als die übrigen phylen geworden, weil das nordöstliche bergland verödete und ihr städtischer demos Phaleron seit Themistokles verkam: zu Kleisthenes zeit muſs gerade dort das regste leben geherrscht haben. Die organisation hätte eine dauernde ausgleichende kontrolle des staates erfordert. diese ist aber nicht eingetreten, es sei denn durch die für das ganze unwesentliche errichtung neuer gemeinden. 307 schritt man freilich zu der schaffung zweier neuer phylen, aber die art, wie man diese schuf, lehrt deutlich, daſs die kleisthenische ordnung nur noch als division des volkes durch zehn erschien, die man mit der zwölftelung vertauschte. auf die kreise und die provinzen hat man weder v. Wilamowitz, Aristoteles. II. 11

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/171>, abgerufen am 29.03.2024.