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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
das ergebnis der ereignisse. dafür ist aber der sinn für das ganze und
grosse vorhanden. das epos ordnet die fülle der erscheinungen und er-
innerungen rückwärts schauend von dem was als resultat der geschichte
vorhanden ist unter grosse gedanken und stellt einen zusammenhang
her, der für die logik der zeit ein causalnexus und für die moral der
zeit die theodicee ist. das stemma, mit dem die Kataloge des Hesiodos
begannen, ist ein bedeutendes product von historisch weit und scharf
blickendem ordnendem urteil: für uns unmittelbar verständlich und un-
schätzbar als eine darstellung der völkerverhältnisse und des bewusstseins
von stammesverwandtschaft und verschiedenheit im siebenten jahrhundert.
die von der poesie wenig umgestalteten sagen von den attischen königen
und die eponyme der gene phratriai phulai lehren schlechthin nichts
für personen und ereignisse; aber die institutionen und die geschicht-
lichen resultate reden in ihnen zu uns, und so sind sie eine ergiebigere
quelle als die urkundliche, in anderer art unschätzbare namenreihe der
chronik. es wird der moderne immer erst nach langer vertrautheit und
durch liebevolle hingabe erreichen, jenen geschlechtern nachzuempfinden,
die selbst ihre eigensten erlebnisse nur in dem reflexe schauen mochten,
den sie auf die heilige geschichte der lieben vorfahren warfen. lebendig
aber ist diese art zu empfinden in dem mutterlande von Hellas vieler
orten noch bis an das ende des fünften jahrhunderts geblieben, und in
den immer mehr schematischen und ausgeklügelten eponymen und wande-
rungen hat auch noch die späteste zeit sich ein surrogat der sage zu
schaffen versucht. wenn die herren der pindarischen gesellschaft es ver-
langen, dass der sieg im faustkampfe, den einer der ihren erringt, mit
der geschichte der stammesheroen in unmittelbare beziehung oder doch
in parallele gesetzt werde, so ist ihnen und dem Pindaros das keine
leere fiction. dem Euripides war es schwerlich mehr, als er am schlusse
des Ion die hesiodische stammesgenealogie so umformte, dass sie sich
den machtverhältnissen des attischen Reiches anpasste: aber die Athener
waren nicht aufgeklärte sophisten wie er. es folgt hieraus, dass die ge-
schichtliche ausnutzung der sagen vorab feststellen muss, wie alt sie in
der form sind, die wir übermittelt erhalten, und dass sie dann zunächst
nur für die zeit etwas lehren, der diese form angehört. alles weitere
ist ein rückschluss, aufgebaut auf der kritik der aussagen, die jene be-
stimmte zeit durch die sage über ihre vergangenheit macht.

NovelleDer sage folgt ihre jüngere schwester, die novelle; beide aber re-
gieren eine weile nebeneinander, so dass sich die grenzen ihrer reiche
häufig verwischen. die sage ist heilig und wahr oder will es doch sein.

II. 1. Die quellen der griechischen geschichte.
das ergebnis der ereignisse. dafür ist aber der sinn für das ganze und
groſse vorhanden. das epos ordnet die fülle der erscheinungen und er-
innerungen rückwärts schauend von dem was als resultat der geschichte
vorhanden ist unter groſse gedanken und stellt einen zusammenhang
her, der für die logik der zeit ein causalnexus und für die moral der
zeit die theodicee ist. das stemma, mit dem die Kataloge des Hesiodos
begannen, ist ein bedeutendes product von historisch weit und scharf
blickendem ordnendem urteil: für uns unmittelbar verständlich und un-
schätzbar als eine darstellung der völkerverhältnisse und des bewuſstseins
von stammesverwandtschaft und verschiedenheit im siebenten jahrhundert.
die von der poesie wenig umgestalteten sagen von den attischen königen
und die eponyme der γένη φϱατϱίαι φυλαί lehren schlechthin nichts
für personen und ereignisse; aber die institutionen und die geschicht-
lichen resultate reden in ihnen zu uns, und so sind sie eine ergiebigere
quelle als die urkundliche, in anderer art unschätzbare namenreihe der
chronik. es wird der moderne immer erst nach langer vertrautheit und
durch liebevolle hingabe erreichen, jenen geschlechtern nachzuempfinden,
die selbst ihre eigensten erlebnisse nur in dem reflexe schauen mochten,
den sie auf die heilige geschichte der lieben vorfahren warfen. lebendig
aber ist diese art zu empfinden in dem mutterlande von Hellas vieler
orten noch bis an das ende des fünften jahrhunderts geblieben, und in
den immer mehr schematischen und ausgeklügelten eponymen und wande-
rungen hat auch noch die späteste zeit sich ein surrogat der sage zu
schaffen versucht. wenn die herren der pindarischen gesellschaft es ver-
langen, daſs der sieg im faustkampfe, den einer der ihren erringt, mit
der geschichte der stammesheroen in unmittelbare beziehung oder doch
in parallele gesetzt werde, so ist ihnen und dem Pindaros das keine
leere fiction. dem Euripides war es schwerlich mehr, als er am schlusse
des Ion die hesiodische stammesgenealogie so umformte, daſs sie sich
den machtverhältnissen des attischen Reiches anpaſste: aber die Athener
waren nicht aufgeklärte sophisten wie er. es folgt hieraus, daſs die ge-
schichtliche ausnutzung der sagen vorab feststellen muſs, wie alt sie in
der form sind, die wir übermittelt erhalten, und daſs sie dann zunächst
nur für die zeit etwas lehren, der diese form angehört. alles weitere
ist ein rückschluſs, aufgebaut auf der kritik der aussagen, die jene be-
stimmte zeit durch die sage über ihre vergangenheit macht.

NovelleDer sage folgt ihre jüngere schwester, die novelle; beide aber re-
gieren eine weile nebeneinander, so daſs sich die grenzen ihrer reiche
häufig verwischen. die sage ist heilig und wahr oder will es doch sein.

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[6/0016] II. 1. Die quellen der griechischen geschichte. das ergebnis der ereignisse. dafür ist aber der sinn für das ganze und groſse vorhanden. das epos ordnet die fülle der erscheinungen und er- innerungen rückwärts schauend von dem was als resultat der geschichte vorhanden ist unter groſse gedanken und stellt einen zusammenhang her, der für die logik der zeit ein causalnexus und für die moral der zeit die theodicee ist. das stemma, mit dem die Kataloge des Hesiodos begannen, ist ein bedeutendes product von historisch weit und scharf blickendem ordnendem urteil: für uns unmittelbar verständlich und un- schätzbar als eine darstellung der völkerverhältnisse und des bewuſstseins von stammesverwandtschaft und verschiedenheit im siebenten jahrhundert. die von der poesie wenig umgestalteten sagen von den attischen königen und die eponyme der γένη φϱατϱίαι φυλαί lehren schlechthin nichts für personen und ereignisse; aber die institutionen und die geschicht- lichen resultate reden in ihnen zu uns, und so sind sie eine ergiebigere quelle als die urkundliche, in anderer art unschätzbare namenreihe der chronik. es wird der moderne immer erst nach langer vertrautheit und durch liebevolle hingabe erreichen, jenen geschlechtern nachzuempfinden, die selbst ihre eigensten erlebnisse nur in dem reflexe schauen mochten, den sie auf die heilige geschichte der lieben vorfahren warfen. lebendig aber ist diese art zu empfinden in dem mutterlande von Hellas vieler orten noch bis an das ende des fünften jahrhunderts geblieben, und in den immer mehr schematischen und ausgeklügelten eponymen und wande- rungen hat auch noch die späteste zeit sich ein surrogat der sage zu schaffen versucht. wenn die herren der pindarischen gesellschaft es ver- langen, daſs der sieg im faustkampfe, den einer der ihren erringt, mit der geschichte der stammesheroen in unmittelbare beziehung oder doch in parallele gesetzt werde, so ist ihnen und dem Pindaros das keine leere fiction. dem Euripides war es schwerlich mehr, als er am schlusse des Ion die hesiodische stammesgenealogie so umformte, daſs sie sich den machtverhältnissen des attischen Reiches anpaſste: aber die Athener waren nicht aufgeklärte sophisten wie er. es folgt hieraus, daſs die ge- schichtliche ausnutzung der sagen vorab feststellen muſs, wie alt sie in der form sind, die wir übermittelt erhalten, und daſs sie dann zunächst nur für die zeit etwas lehren, der diese form angehört. alles weitere ist ein rückschluſs, aufgebaut auf der kritik der aussagen, die jene be- stimmte zeit durch die sage über ihre vergangenheit macht. Der sage folgt ihre jüngere schwester, die novelle; beide aber re- gieren eine weile nebeneinander, so daſs sich die grenzen ihrer reiche häufig verwischen. die sage ist heilig und wahr oder will es doch sein. Novelle

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/16>, abgerufen am 28.03.2024.