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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Ion und seine söhne.
dass die sage ersonnen ist, um den sohn des Xuthos herbeizuholen, mit
anderen worten, wenn die sage nicht mehr rein attisch ist: der sohn
des Apollon musste ja Athener sein. befremdlich ist für diesen die
charge des polemarchen, durch die selbst Aristoteles zu der ungeheuer-
lichkeit gezwungen wird, die polemarchie neben dem königtume in die
urzeit zu rücken. die eroberung von Eleusis fällt so spät, dass die er-
innerung an einen polemarchen sich sehr wol erhalten konnte, und ein
Ionide oder gar ein Ion aus diesem geschlechte könnte also als con-
current des heros auftreten. ich wüsste zwischen den vielen möglich-
keiten nicht zu entscheiden.

Wie aber kommt es, dass die Atthis, die doch die reform der ver-
fassung 683 geschichtlich festgehalten hat, von der einführung der vier
phylen gar nichts weiss? sie konnte es nicht; für ihre anschauung
waren sie, wie der gott gesagt hatte, höchstens wieder eingeführt. die
söhne Ions hatten ja doch in der urzeit gelebt. ganz so, wie sie nur
einen abfall von Eleusis oder den einfall eines Thrakerheeres erzählen
kann, wie Kekrops bereits könig von ganz Attika ist, trotz den synoi-
kismen des Ion und des Theseus, musste auch hier das resultat der ent-
wicklung in die urzeit projicirt werden. die Atthis hat aber überhaupt
so ganz auf dem boden des demokratischen kleisthenischen Athens gestan-
den, dass sie für die alten phylen, ja selbst die phratrien und geschlechter,
die doch fortbestanden, fast gar kein interesse hat. in ihrer urgeschichte
weht derselbe geist wie in der hohen poesie des fünften jahrhunderts.
man schiert sich wenig um den eben überwundenen adel, freut sich
um so mehr an dem stolzen bau der jungen demokratie. so schlägt man
kühn von ihr die brücke unmittelbar zu der urzeit. könig Theseus
schafft ordnung in der anarchie und legt den grund zu der freiheit und
gleichheit. für die schilderung der anarchie braucht man selbständige
poleis, und sie boten sich in den lebendigen traditionen der Aphi-
dnaeer Epakrier Palleneer. bequem bot sich die zwölfzahl der alten
trittyen, die man durch solche namen örtlich fixirte. damit ist noch
gar nicht gesagt, dass man wirklich 12 aufzählte oder mit überlegung
wählte: die aufzählung ist erst ein act der forschung.34) eben so bequem

lässt ihn wider Euboia ziehn (wo Xuthos doch zu hause ist), weil seine chronologie
den kampf mit Eleusis, in dem Kreusas schwestern geopfert sind, nicht verträgt. wie
er im Erechtheus gedichtet hatte, ist leider nicht sicher zu erkennen. in ihm wird
Erechtheus kinderlos und adoptirt, wie es scheint, am ende einen sohn: ich kann
nur an Ion denken; aber ein wirklicher beweis ist mir nicht möglich.
34) Strab. 397 gibt die liste nach Philochoros. der fehlende name dürfte hinter

Ion und seine söhne.
daſs die sage ersonnen ist, um den sohn des Xuthos herbeizuholen, mit
anderen worten, wenn die sage nicht mehr rein attisch ist: der sohn
des Apollon muſste ja Athener sein. befremdlich ist für diesen die
charge des polemarchen, durch die selbst Aristoteles zu der ungeheuer-
lichkeit gezwungen wird, die polemarchie neben dem königtume in die
urzeit zu rücken. die eroberung von Eleusis fällt so spät, daſs die er-
innerung an einen polemarchen sich sehr wol erhalten konnte, und ein
Ionide oder gar ein Ion aus diesem geschlechte könnte also als con-
current des heros auftreten. ich wüſste zwischen den vielen möglich-
keiten nicht zu entscheiden.

Wie aber kommt es, daſs die Atthis, die doch die reform der ver-
fassung 683 geschichtlich festgehalten hat, von der einführung der vier
phylen gar nichts weiſs? sie konnte es nicht; für ihre anschauung
waren sie, wie der gott gesagt hatte, höchstens wieder eingeführt. die
söhne Ions hatten ja doch in der urzeit gelebt. ganz so, wie sie nur
einen abfall von Eleusis oder den einfall eines Thrakerheeres erzählen
kann, wie Kekrops bereits könig von ganz Attika ist, trotz den synoi-
kismen des Ion und des Theseus, muſste auch hier das resultat der ent-
wicklung in die urzeit projicirt werden. die Atthis hat aber überhaupt
so ganz auf dem boden des demokratischen kleisthenischen Athens gestan-
den, daſs sie für die alten phylen, ja selbst die phratrien und geschlechter,
die doch fortbestanden, fast gar kein interesse hat. in ihrer urgeschichte
weht derselbe geist wie in der hohen poesie des fünften jahrhunderts.
man schiert sich wenig um den eben überwundenen adel, freut sich
um so mehr an dem stolzen bau der jungen demokratie. so schlägt man
kühn von ihr die brücke unmittelbar zu der urzeit. könig Theseus
schafft ordnung in der anarchie und legt den grund zu der freiheit und
gleichheit. für die schilderung der anarchie braucht man selbständige
πόλεις, und sie boten sich in den lebendigen traditionen der Aphi-
dnaeer Epakrier Palleneer. bequem bot sich die zwölfzahl der alten
trittyen, die man durch solche namen örtlich fixirte. damit ist noch
gar nicht gesagt, daſs man wirklich 12 aufzählte oder mit überlegung
wählte: die aufzählung ist erst ein act der forschung.34) eben so bequem

läſst ihn wider Euboia ziehn (wo Xuthos doch zu hause ist), weil seine chronologie
den kampf mit Eleusis, in dem Kreusas schwestern geopfert sind, nicht verträgt. wie
er im Erechtheus gedichtet hatte, ist leider nicht sicher zu erkennen. in ihm wird
Erechtheus kinderlos und adoptirt, wie es scheint, am ende einen sohn: ich kann
nur an Ion denken; aber ein wirklicher beweis ist mir nicht möglich.
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[143/0153] Ion und seine söhne. daſs die sage ersonnen ist, um den sohn des Xuthos herbeizuholen, mit anderen worten, wenn die sage nicht mehr rein attisch ist: der sohn des Apollon muſste ja Athener sein. befremdlich ist für diesen die charge des polemarchen, durch die selbst Aristoteles zu der ungeheuer- lichkeit gezwungen wird, die polemarchie neben dem königtume in die urzeit zu rücken. die eroberung von Eleusis fällt so spät, daſs die er- innerung an einen polemarchen sich sehr wol erhalten konnte, und ein Ionide oder gar ein Ion aus diesem geschlechte könnte also als con- current des heros auftreten. ich wüſste zwischen den vielen möglich- keiten nicht zu entscheiden. Wie aber kommt es, daſs die Atthis, die doch die reform der ver- fassung 683 geschichtlich festgehalten hat, von der einführung der vier phylen gar nichts weiſs? sie konnte es nicht; für ihre anschauung waren sie, wie der gott gesagt hatte, höchstens wieder eingeführt. die söhne Ions hatten ja doch in der urzeit gelebt. ganz so, wie sie nur einen abfall von Eleusis oder den einfall eines Thrakerheeres erzählen kann, wie Kekrops bereits könig von ganz Attika ist, trotz den synoi- kismen des Ion und des Theseus, muſste auch hier das resultat der ent- wicklung in die urzeit projicirt werden. die Atthis hat aber überhaupt so ganz auf dem boden des demokratischen kleisthenischen Athens gestan- den, daſs sie für die alten phylen, ja selbst die phratrien und geschlechter, die doch fortbestanden, fast gar kein interesse hat. in ihrer urgeschichte weht derselbe geist wie in der hohen poesie des fünften jahrhunderts. man schiert sich wenig um den eben überwundenen adel, freut sich um so mehr an dem stolzen bau der jungen demokratie. so schlägt man kühn von ihr die brücke unmittelbar zu der urzeit. könig Theseus schafft ordnung in der anarchie und legt den grund zu der freiheit und gleichheit. für die schilderung der anarchie braucht man selbständige πόλεις, und sie boten sich in den lebendigen traditionen der Aphi- dnaeer Epakrier Palleneer. bequem bot sich die zwölfzahl der alten trittyen, die man durch solche namen örtlich fixirte. damit ist noch gar nicht gesagt, daſs man wirklich 12 aufzählte oder mit überlegung wählte: die aufzählung ist erst ein act der forschung. 34) eben so bequem 33) 34) Strab. 397 gibt die liste nach Philochoros. der fehlende name dürfte hinter 33) läſst ihn wider Euboia ziehn (wo Xuthos doch zu hause ist), weil seine chronologie den kampf mit Eleusis, in dem Kreusas schwestern geopfert sind, nicht verträgt. wie er im Erechtheus gedichtet hatte, ist leider nicht sicher zu erkennen. in ihm wird Erechtheus kinderlos und adoptirt, wie es scheint, am ende einen sohn: ich kann nur an Ion denken; aber ein wirklicher beweis ist mir nicht möglich.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/153>, abgerufen am 19.04.2024.