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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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II. 4. Patrios politeia.
weit giengen, auf den namen guter patrioten anspruch haben ebenso
gut wie ihre demokratischen gegner. ein weiterer wert liegt darin,
dass wir einerseits den anschluss dieser leute an die solonische oder
vorsolonische verfassung deutlich wahrnehmen, also auch über jene
mancherlei erschliessen, was die demokratische tradition der chronik
nicht bewahrt hat. andererseits aber entfernt sich diese verfassung so
weit von der wirklich alten, dass sie, so entrüstet ihre urheber auch
über diese kritik sein würden, der demokratie in wahrheit immer noch
näher steht. sie schliesst sich an die verfassung Drakons an, aber nur
so weit, dass sie für uns deren echtheit beweist, die wir bezweifeln
würden, wenn der anschluss enger wäre. die verfassung der väter, das
war der schlachtruf der oligarchen viel mehr um das brave volk zu ge-
winnen, als weil sie reactionär waren. die verfassung der väter war
auch für die demokraten der schlachtruf und ist es geblieben. diese
fragten nach der wirklichen verfassung Solons noch viel weniger, aber
sie rechtfertigten doch auch ihre ansprüche durch diesen titel, über-
trumpften wol noch gar die gegner, weil ihre demokratie schon the-
seisch wäre. in wahrheit lag in dem rufe nach der patrios politeia
412--403, den alle erhoben und bei dem sie sich so verschiedenes
dachten, das gemeinsame gefühl, dass die gegenwart nur zu traurig ver-
schieden sei von der grossen zeit der väter.

Ein richtig empfundener gegensatz zwischen der solonischen und
perikleischen verfassung liegt nur in dem was das volk als prinzip an-
genommen hatte, ehe die oligarchie eingeführt ward. das konnte niemand
bestreiten, dass die besoldungen des rates und der richter eine neuerung
waren, von der die väter nichts gewusst hatten, und dass die politischen
rechte der besitzlosen bürgerschaft zur zeit der väter nicht bestanden
hatten. Solon hatte den theten zwar die volksversammlung geöffnet;
die hatte aber eine viel geringere bedeutung gehabt. er hatte sie auch
von den gerichten nicht ausgeschlossen; aber einmal hatten diese un-
gleich weniger bedeutet, und zum andern schloss sich jeder von selbst
aus, der seine tage dazu bedurfte, brot für sich und die seinen zu schaffen.
wenn der sold fortfiel, fiel die herrschaft, die das städtische proletariat
zu üben begann. es erschien aber mit fug und recht, gerade wenn der
census sonst nichts mehr bedeutete, die beschränkung des bürgerrechtes,
die in den forderungen für den hoplitendienst lag, vollends zur zeit des
krieges durchaus billig. darum versuchte man 411 nach dem sturze
der 400 diese beschlüsse zu halten. diese beschränkungen sind es
um derentwillen Thukydides und im anschlusse an ihn Aristoteles die

II. 4. Πάτϱιος πολιτεία.
weit giengen, auf den namen guter patrioten anspruch haben ebenso
gut wie ihre demokratischen gegner. ein weiterer wert liegt darin,
daſs wir einerseits den anschluſs dieser leute an die solonische oder
vorsolonische verfassung deutlich wahrnehmen, also auch über jene
mancherlei erschlieſsen, was die demokratische tradition der chronik
nicht bewahrt hat. andererseits aber entfernt sich diese verfassung so
weit von der wirklich alten, daſs sie, so entrüstet ihre urheber auch
über diese kritik sein würden, der demokratie in wahrheit immer noch
näher steht. sie schlieſst sich an die verfassung Drakons an, aber nur
so weit, daſs sie für uns deren echtheit beweist, die wir bezweifeln
würden, wenn der anschluſs enger wäre. die verfassung der väter, das
war der schlachtruf der oligarchen viel mehr um das brave volk zu ge-
winnen, als weil sie reactionär waren. die verfassung der väter war
auch für die demokraten der schlachtruf und ist es geblieben. diese
fragten nach der wirklichen verfassung Solons noch viel weniger, aber
sie rechtfertigten doch auch ihre ansprüche durch diesen titel, über-
trumpften wol noch gar die gegner, weil ihre demokratie schon the-
seisch wäre. in wahrheit lag in dem rufe nach der πάτϱιος πολιτεία
412—403, den alle erhoben und bei dem sie sich so verschiedenes
dachten, das gemeinsame gefühl, daſs die gegenwart nur zu traurig ver-
schieden sei von der groſsen zeit der väter.

Ein richtig empfundener gegensatz zwischen der solonischen und
perikleischen verfassung liegt nur in dem was das volk als prinzip an-
genommen hatte, ehe die oligarchie eingeführt ward. das konnte niemand
bestreiten, daſs die besoldungen des rates und der richter eine neuerung
waren, von der die väter nichts gewuſst hatten, und daſs die politischen
rechte der besitzlosen bürgerschaft zur zeit der väter nicht bestanden
hatten. Solon hatte den theten zwar die volksversammlung geöffnet;
die hatte aber eine viel geringere bedeutung gehabt. er hatte sie auch
von den gerichten nicht ausgeschlossen; aber einmal hatten diese un-
gleich weniger bedeutet, und zum andern schloſs sich jeder von selbst
aus, der seine tage dazu bedurfte, brot für sich und die seinen zu schaffen.
wenn der sold fortfiel, fiel die herrschaft, die das städtische proletariat
zu üben begann. es erschien aber mit fug und recht, gerade wenn der
census sonst nichts mehr bedeutete, die beschränkung des bürgerrechtes,
die in den forderungen für den hoplitendienst lag, vollends zur zeit des
krieges durchaus billig. darum versuchte man 411 nach dem sturze
der 400 diese beschlüsse zu halten. diese beschränkungen sind es
um derentwillen Thukydides und im anschluſse an ihn Aristoteles die

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[124/0134] II. 4. Πάτϱιος πολιτεία. weit giengen, auf den namen guter patrioten anspruch haben ebenso gut wie ihre demokratischen gegner. ein weiterer wert liegt darin, daſs wir einerseits den anschluſs dieser leute an die solonische oder vorsolonische verfassung deutlich wahrnehmen, also auch über jene mancherlei erschlieſsen, was die demokratische tradition der chronik nicht bewahrt hat. andererseits aber entfernt sich diese verfassung so weit von der wirklich alten, daſs sie, so entrüstet ihre urheber auch über diese kritik sein würden, der demokratie in wahrheit immer noch näher steht. sie schlieſst sich an die verfassung Drakons an, aber nur so weit, daſs sie für uns deren echtheit beweist, die wir bezweifeln würden, wenn der anschluſs enger wäre. die verfassung der väter, das war der schlachtruf der oligarchen viel mehr um das brave volk zu ge- winnen, als weil sie reactionär waren. die verfassung der väter war auch für die demokraten der schlachtruf und ist es geblieben. diese fragten nach der wirklichen verfassung Solons noch viel weniger, aber sie rechtfertigten doch auch ihre ansprüche durch diesen titel, über- trumpften wol noch gar die gegner, weil ihre demokratie schon the- seisch wäre. in wahrheit lag in dem rufe nach der πάτϱιος πολιτεία 412—403, den alle erhoben und bei dem sie sich so verschiedenes dachten, das gemeinsame gefühl, daſs die gegenwart nur zu traurig ver- schieden sei von der groſsen zeit der väter. Ein richtig empfundener gegensatz zwischen der solonischen und perikleischen verfassung liegt nur in dem was das volk als prinzip an- genommen hatte, ehe die oligarchie eingeführt ward. das konnte niemand bestreiten, daſs die besoldungen des rates und der richter eine neuerung waren, von der die väter nichts gewuſst hatten, und daſs die politischen rechte der besitzlosen bürgerschaft zur zeit der väter nicht bestanden hatten. Solon hatte den theten zwar die volksversammlung geöffnet; die hatte aber eine viel geringere bedeutung gehabt. er hatte sie auch von den gerichten nicht ausgeschlossen; aber einmal hatten diese un- gleich weniger bedeutet, und zum andern schloſs sich jeder von selbst aus, der seine tage dazu bedurfte, brot für sich und die seinen zu schaffen. wenn der sold fortfiel, fiel die herrschaft, die das städtische proletariat zu üben begann. es erschien aber mit fug und recht, gerade wenn der census sonst nichts mehr bedeutete, die beschränkung des bürgerrechtes, die in den forderungen für den hoplitendienst lag, vollends zur zeit des krieges durchaus billig. darum versuchte man 411 nach dem sturze der 400 diese beschlüsse zu halten. diese beschränkungen sind es um derentwillen Thukydides und im anschluſse an ihn Aristoteles die

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/134>, abgerufen am 28.03.2024.