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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die kritik des verfassungsentwurfes.
gezwungen werden müsse, völlig befangen; Aristoteles ist solchen schönen
aber nach zwei jahrtausenden noch eben so wenig realisirten ideen auch
sehr zugänglich. so schafft dieser theoretiker seine viertel und seinen
rat; aber den Areopag, die stabile und nicht zu zahlreiche und geschäfts-
erfahrene behörde, die bei Drakon wirklich regierte, hat er doch ganz
vergessen. er richtet einen staat ein, der in dem ländchen Attika viel-
leicht existiren konnte, aber mit dem Reiche schlechthin unvereinbar war.
da mag man sagen, er mochte das Reich für verloren ansehen und den
verlust für einen segen. so täuschte er sich doch über die gesellschaft,
die in Athen regieren sollte. grundbesitzer oder capitalisten, die um den
erwerb nicht zu sorgen brauchten, mochten jedes vierte jahr so ziemlich
ganz dem politischen leben opfern können: die Athener, die als kauf-
leute den sommer abwesend waren oder eine fabrik leiteten oder selbst
ihr landgut bewirtschafteten, hatten unmöglich dazu die zeit. zwanzig
bis dreissigmal im jahre konnte wol der bauer aus Kephale oder Tri-
korythos zur stadt gehn und hören, was im staate vorkam, und stimmen:
ein ratsherr der neuen verfassung hatte ziemlich so viel zu tun wie ein
ratsherr der alten; dazu waren diese mesoi politai, der kern des volkes,
ausser stande.

So müssen wir dem verfassungsentwurfe nachsagen, dass er so wenig
zu leben verdiente, wie er ins leben zu treten vermocht hat. er ist
die arbeit eines theoretikers und trägt davon die spuren in der eigen-
tümlichen mischung von reaction und radicalismus, die ziemlich allen
verfassungen gemeinsam ist, die nur auf papier existirt haben, nicht zum
wenigsten, wenn sie von männern herrühren, die geschichtliche kenntnisse
und abstracte speculation mit einem scharfen kritischen blicke für die
schäden des politischen lebens verbinden, an dem sie selbst praktisch
nicht teil nehmen. als kritik der perikleischen demokratie ist das schrift-
stück sehr wertvoll. es könnte sich vielleicht auch noch heute mancher
für den gedanken erwärmen, die berufsparlamentarier auszurotten und
die beschlussfähigkeit der versammlungen durch strafen für die ver-
säumnis statt durch diaeten herbeizuführen. wertvoller vielleicht noch
als in dem, was er an ihr tadelt, wird die übereinstimmung dieses oli-
garchen mit der demokratie, denn auch er hat den adel, die solonischen
classen und den Areopagitenrat zu den toten geworfen. für die zeit-
geschichte ist das document wesentlich deshalb von wert, weil wir im
gegensatze zu Aristoteles die unmöglichkeit daraus abnehmen, Athen
oligarchisch zu reformiren, im gegensatze zu der gemeinen tradition
des altertumes aber anerkennen müssen, dass die oligarchen, die nur so

Die kritik des verfassungsentwurfes.
gezwungen werden müsse, völlig befangen; Aristoteles ist solchen schönen
aber nach zwei jahrtausenden noch eben so wenig realisirten ideen auch
sehr zugänglich. so schafft dieser theoretiker seine viertel und seinen
rat; aber den Areopag, die stabile und nicht zu zahlreiche und geschäfts-
erfahrene behörde, die bei Drakon wirklich regierte, hat er doch ganz
vergessen. er richtet einen staat ein, der in dem ländchen Attika viel-
leicht existiren konnte, aber mit dem Reiche schlechthin unvereinbar war.
da mag man sagen, er mochte das Reich für verloren ansehen und den
verlust für einen segen. so täuschte er sich doch über die gesellschaft,
die in Athen regieren sollte. grundbesitzer oder capitalisten, die um den
erwerb nicht zu sorgen brauchten, mochten jedes vierte jahr so ziemlich
ganz dem politischen leben opfern können: die Athener, die als kauf-
leute den sommer abwesend waren oder eine fabrik leiteten oder selbst
ihr landgut bewirtschafteten, hatten unmöglich dazu die zeit. zwanzig
bis dreiſsigmal im jahre konnte wol der bauer aus Kephale oder Tri-
korythos zur stadt gehn und hören, was im staate vorkam, und stimmen:
ein ratsherr der neuen verfassung hatte ziemlich so viel zu tun wie ein
ratsherr der alten; dazu waren diese μέσοι πολῖται, der kern des volkes,
auſser stande.

So müssen wir dem verfassungsentwurfe nachsagen, daſs er so wenig
zu leben verdiente, wie er ins leben zu treten vermocht hat. er ist
die arbeit eines theoretikers und trägt davon die spuren in der eigen-
tümlichen mischung von reaction und radicalismus, die ziemlich allen
verfassungen gemeinsam ist, die nur auf papier existirt haben, nicht zum
wenigsten, wenn sie von männern herrühren, die geschichtliche kenntnisse
und abstracte speculation mit einem scharfen kritischen blicke für die
schäden des politischen lebens verbinden, an dem sie selbst praktisch
nicht teil nehmen. als kritik der perikleischen demokratie ist das schrift-
stück sehr wertvoll. es könnte sich vielleicht auch noch heute mancher
für den gedanken erwärmen, die berufsparlamentarier auszurotten und
die beschluſsfähigkeit der versammlungen durch strafen für die ver-
säumnis statt durch diaeten herbeizuführen. wertvoller vielleicht noch
als in dem, was er an ihr tadelt, wird die übereinstimmung dieses oli-
garchen mit der demokratie, denn auch er hat den adel, die solonischen
classen und den Areopagitenrat zu den toten geworfen. für die zeit-
geschichte ist das document wesentlich deshalb von wert, weil wir im
gegensatze zu Aristoteles die unmöglichkeit daraus abnehmen, Athen
oligarchisch zu reformiren, im gegensatze zu der gemeinen tradition
des altertumes aber anerkennen müssen, daſs die oligarchen, die nur so

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[123/0133] Die kritik des verfassungsentwurfes. gezwungen werden müsse, völlig befangen; Aristoteles ist solchen schönen aber nach zwei jahrtausenden noch eben so wenig realisirten ideen auch sehr zugänglich. so schafft dieser theoretiker seine viertel und seinen rat; aber den Areopag, die stabile und nicht zu zahlreiche und geschäfts- erfahrene behörde, die bei Drakon wirklich regierte, hat er doch ganz vergessen. er richtet einen staat ein, der in dem ländchen Attika viel- leicht existiren konnte, aber mit dem Reiche schlechthin unvereinbar war. da mag man sagen, er mochte das Reich für verloren ansehen und den verlust für einen segen. so täuschte er sich doch über die gesellschaft, die in Athen regieren sollte. grundbesitzer oder capitalisten, die um den erwerb nicht zu sorgen brauchten, mochten jedes vierte jahr so ziemlich ganz dem politischen leben opfern können: die Athener, die als kauf- leute den sommer abwesend waren oder eine fabrik leiteten oder selbst ihr landgut bewirtschafteten, hatten unmöglich dazu die zeit. zwanzig bis dreiſsigmal im jahre konnte wol der bauer aus Kephale oder Tri- korythos zur stadt gehn und hören, was im staate vorkam, und stimmen: ein ratsherr der neuen verfassung hatte ziemlich so viel zu tun wie ein ratsherr der alten; dazu waren diese μέσοι πολῖται, der kern des volkes, auſser stande. So müssen wir dem verfassungsentwurfe nachsagen, daſs er so wenig zu leben verdiente, wie er ins leben zu treten vermocht hat. er ist die arbeit eines theoretikers und trägt davon die spuren in der eigen- tümlichen mischung von reaction und radicalismus, die ziemlich allen verfassungen gemeinsam ist, die nur auf papier existirt haben, nicht zum wenigsten, wenn sie von männern herrühren, die geschichtliche kenntnisse und abstracte speculation mit einem scharfen kritischen blicke für die schäden des politischen lebens verbinden, an dem sie selbst praktisch nicht teil nehmen. als kritik der perikleischen demokratie ist das schrift- stück sehr wertvoll. es könnte sich vielleicht auch noch heute mancher für den gedanken erwärmen, die berufsparlamentarier auszurotten und die beschluſsfähigkeit der versammlungen durch strafen für die ver- säumnis statt durch diaeten herbeizuführen. wertvoller vielleicht noch als in dem, was er an ihr tadelt, wird die übereinstimmung dieses oli- garchen mit der demokratie, denn auch er hat den adel, die solonischen classen und den Areopagitenrat zu den toten geworfen. für die zeit- geschichte ist das document wesentlich deshalb von wert, weil wir im gegensatze zu Aristoteles die unmöglichkeit daraus abnehmen, Athen oligarchisch zu reformiren, im gegensatze zu der gemeinen tradition des altertumes aber anerkennen müssen, daſs die oligarchen, die nur so

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/133>, abgerufen am 23.04.2024.