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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die verfassung der blütezeit.
nehmer, die handwerker nur selten die zeit daran wandten. so ward
die volksversammlung statt das ganze volk zu vertreten geradezu die
einseitigste vertretung und die ungerechteste. sie vertrat die stadt, die
es rechtlich gar nicht gab, trotz dem ganzen lande, und die drohnen
trotz den arbeitsbienen. die unerfahrene jugend konnte das höchste
souveränetätsrecht eher üben, als sie selbst irgendwie die eigene ver-
antwortlichkeit an einem teile zu kosten bekommen hatte. die besitz-
lose bürgerliche bevölkerung, die am kriege profitirte, wenn sie auf die
schiffe gieng, sonst gar keinen feind zu sehn bekam oder höchstens
waffenlos zum beutemachen mitlief, konnte die vorlagen der strategen
niederstimmen und gar die strategen selbst wählen und absetzen.

Wenn eine verfassung wirklich wie eine maschine functionirte, so
würde es wesentlich auf ihre construction ankommen. aber da ihre
träger beseelte menschen sind, so kommt es auf diese seelen viel mehr an.
die demokratie die die Athener um 460 vollendeten hat ein menschen-
alter vorzüglich functionirt, weil ihre träger den geist bewahrten, dem
sie in ihrer verfassung ausdruck gegeben hatten. die autorität der
männer, die dem volke diese freiheit und herrschaft gewonnen hatten,
hielt vor, sie blieben die vertrauensmänner des souveräns, und so er-
hielt sich die stetigkeit der politik. die tradition war noch so mächtig,
dass der demos sich eben so willig unter die 'ansehnlichen leute', die
männer 'aus den guten familien', stellte, wie die matrosen unter die
trierarchen. die grossen verhältnisse des Reiches (die in alles factisch viel
mehr bestimmend eingreifen, als diese betrachtung der dinge von dem
gesichtspunkte der verfassung aus erkennen lässt) führten von selbst
dazu, dass die strategen das starke handelnde organ des staates sein
durften, wirklich ein magistrat im römischen sinne. und das lebendige
sonderleben der gemeinden, die sich die stadt noch nicht über den
kopf wachsen liessen, garantirte, dass der rat eine vertretung des ganzen
volkes war und demgemäss die ihm gebührende autorität besass.6)


6) Die modernen haben die strategenwahlen zu einseitig als entscheidend für
die politik angesehen; das moderne politische leben hat sie dabei nicht ganz richtig
geführt. gewiss sind sie wichtig, und wir kennen die strategen besser als die rats-
herren, aber die entscheidende politik macht doch der rat, und dass in ihm die
friedensfreunde 422/21 und schon die jahre vorher die majorität hatten, hat dem
Nikias erst den friedensschluss ermöglicht. andererseits ist es der rat, den Kleon
bei der erhöhung der tribute hinter sich hat. die entscheidenden wahlen sind also
die in den gemeinden für die praesentation zum lose für die ratsherrenstellen. dass
sich uns das einzelne notwendigerweise entzieht, mindert die bedeutung nicht. so
lange die gemeindemitglieder wesentlich noch in der gemeinde wohnten, kam dabei

Die verfassung der blütezeit.
nehmer, die handwerker nur selten die zeit daran wandten. so ward
die volksversammlung statt das ganze volk zu vertreten geradezu die
einseitigste vertretung und die ungerechteste. sie vertrat die stadt, die
es rechtlich gar nicht gab, trotz dem ganzen lande, und die drohnen
trotz den arbeitsbienen. die unerfahrene jugend konnte das höchste
souveränetätsrecht eher üben, als sie selbst irgendwie die eigene ver-
antwortlichkeit an einem teile zu kosten bekommen hatte. die besitz-
lose bürgerliche bevölkerung, die am kriege profitirte, wenn sie auf die
schiffe gieng, sonst gar keinen feind zu sehn bekam oder höchstens
waffenlos zum beutemachen mitlief, konnte die vorlagen der strategen
niederstimmen und gar die strategen selbst wählen und absetzen.

Wenn eine verfassung wirklich wie eine maschine functionirte, so
würde es wesentlich auf ihre construction ankommen. aber da ihre
träger beseelte menschen sind, so kommt es auf diese seelen viel mehr an.
die demokratie die die Athener um 460 vollendeten hat ein menschen-
alter vorzüglich functionirt, weil ihre träger den geist bewahrten, dem
sie in ihrer verfassung ausdruck gegeben hatten. die autorität der
männer, die dem volke diese freiheit und herrschaft gewonnen hatten,
hielt vor, sie blieben die vertrauensmänner des souveräns, und so er-
hielt sich die stetigkeit der politik. die tradition war noch so mächtig,
daſs der demos sich eben so willig unter die ‘ansehnlichen leute’, die
männer ‘aus den guten familien’, stellte, wie die matrosen unter die
trierarchen. die groſsen verhältnisse des Reiches (die in alles factisch viel
mehr bestimmend eingreifen, als diese betrachtung der dinge von dem
gesichtspunkte der verfassung aus erkennen läſst) führten von selbst
dazu, daſs die strategen das starke handelnde organ des staates sein
durften, wirklich ein magistrat im römischen sinne. und das lebendige
sonderleben der gemeinden, die sich die stadt noch nicht über den
kopf wachsen lieſsen, garantirte, daſs der rat eine vertretung des ganzen
volkes war und demgemäſs die ihm gebührende autorität besaſs.6)


6) Die modernen haben die strategenwahlen zu einseitig als entscheidend für
die politik angesehen; das moderne politische leben hat sie dabei nicht ganz richtig
geführt. gewiſs sind sie wichtig, und wir kennen die strategen besser als die rats-
herren, aber die entscheidende politik macht doch der rat, und daſs in ihm die
friedensfreunde 422/21 und schon die jahre vorher die majorität hatten, hat dem
Nikias erst den friedensschluſs ermöglicht. andererseits ist es der rat, den Kleon
bei der erhöhung der tribute hinter sich hat. die entscheidenden wahlen sind also
die in den gemeinden für die praesentation zum lose für die ratsherrenstellen. daſs
sich uns das einzelne notwendigerweise entzieht, mindert die bedeutung nicht. so
lange die gemeindemitglieder wesentlich noch in der gemeinde wohnten, kam dabei
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[111/0121] Die verfassung der blütezeit. nehmer, die handwerker nur selten die zeit daran wandten. so ward die volksversammlung statt das ganze volk zu vertreten geradezu die einseitigste vertretung und die ungerechteste. sie vertrat die stadt, die es rechtlich gar nicht gab, trotz dem ganzen lande, und die drohnen trotz den arbeitsbienen. die unerfahrene jugend konnte das höchste souveränetätsrecht eher üben, als sie selbst irgendwie die eigene ver- antwortlichkeit an einem teile zu kosten bekommen hatte. die besitz- lose bürgerliche bevölkerung, die am kriege profitirte, wenn sie auf die schiffe gieng, sonst gar keinen feind zu sehn bekam oder höchstens waffenlos zum beutemachen mitlief, konnte die vorlagen der strategen niederstimmen und gar die strategen selbst wählen und absetzen. Wenn eine verfassung wirklich wie eine maschine functionirte, so würde es wesentlich auf ihre construction ankommen. aber da ihre träger beseelte menschen sind, so kommt es auf diese seelen viel mehr an. die demokratie die die Athener um 460 vollendeten hat ein menschen- alter vorzüglich functionirt, weil ihre träger den geist bewahrten, dem sie in ihrer verfassung ausdruck gegeben hatten. die autorität der männer, die dem volke diese freiheit und herrschaft gewonnen hatten, hielt vor, sie blieben die vertrauensmänner des souveräns, und so er- hielt sich die stetigkeit der politik. die tradition war noch so mächtig, daſs der demos sich eben so willig unter die ‘ansehnlichen leute’, die männer ‘aus den guten familien’, stellte, wie die matrosen unter die trierarchen. die groſsen verhältnisse des Reiches (die in alles factisch viel mehr bestimmend eingreifen, als diese betrachtung der dinge von dem gesichtspunkte der verfassung aus erkennen läſst) führten von selbst dazu, daſs die strategen das starke handelnde organ des staates sein durften, wirklich ein magistrat im römischen sinne. und das lebendige sonderleben der gemeinden, die sich die stadt noch nicht über den kopf wachsen lieſsen, garantirte, daſs der rat eine vertretung des ganzen volkes war und demgemäſs die ihm gebührende autorität besaſs. 6) 6) Die modernen haben die strategenwahlen zu einseitig als entscheidend für die politik angesehen; das moderne politische leben hat sie dabei nicht ganz richtig geführt. gewiſs sind sie wichtig, und wir kennen die strategen besser als die rats- herren, aber die entscheidende politik macht doch der rat, und daſs in ihm die friedensfreunde 422/21 und schon die jahre vorher die majorität hatten, hat dem Nikias erst den friedensschluſs ermöglicht. andererseits ist es der rat, den Kleon bei der erhöhung der tribute hinter sich hat. die entscheidenden wahlen sind also die in den gemeinden für die praesentation zum lose für die ratsherrenstellen. daſs sich uns das einzelne notwendigerweise entzieht, mindert die bedeutung nicht. so lange die gemeindemitglieder wesentlich noch in der gemeinde wohnten, kam dabei

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/121>, abgerufen am 28.03.2024.