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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893.

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Die verfassung der blütezeit.
oder lehnte ab. somit war immer ein individuum da, das die verant-
wortung für den souverän rechtlich und factisch trug. wer den sou-
verän zu ungesetzlichem verleiten wollte, konnte deswegen gerichtlich
belangt werden, und schon ein einzelner in der volksversammlung konnte
durch seinen einspruch, in der form einer klaganmeldung, einen antrag
oder beschluss wenigstens suspendiren. falls aber das ungesetzliche oder
auch schädliche schon beschlossen oder geschehen war, so konnte der
belangt werden, der den demos 'betrogen' hatte. auch konnte jeder den
antragsteller verklagen, weil er 'ein unpassendes gesetz beantragt hätte'.

Da es factisch undurchführbar war, dass jeder einzelne bürger in
jedem falle von dem teile souveränetät, der auf ihn kam, gebrauch
machte, so war das volk oder auch die majorität der Athener durch
legalfiction vorhanden, wenn eine durch gesetz bestimmte vertretung der
gesammtheit factisch die souveränetät übte. das galt in wahrheit schon von
der volksversammlung, für deren sitzungen es keine numerische beschrän-
kung der beschlussfähigkeit gab, ausser für besondere fälle, wo schrift-
liche abstimmung gefordert ward (nomoi ep andri). aber davon zieht man
vor nicht zu reden. dagegen gilt der satz, dass die richterliche, schlecht-
hin infallible und inappellable (anupeuthunos), übung der souveränetät,
ganz besondere ausnahmen abgerechnet, immer vom volke nur ideell,
factisch aber von einer vertretung desselben ausgeübt wird, deren stärke
das gesetz vorsah. das gericht ist rechtlich immer identisch mit dem
volke, sonst hätte sich seine unverantwortlichkeit gar nicht aufrecht halten
lassen. auch das gericht muss berufen werden, entbehrt also der initia-
tive, und zwar geschieht dies, weil es eine sehr alte, spätestens solonische
einrichtung ist, durch die archonten, an die sich die übrigen beamten
zu wenden haben, wenn sie eine sache vor das volk zur richterlichen
entscheidung zu bringen wünschen. die archonten aber sind nicht frei
in der auswahl der volksvertretung, sondern erlosen die gesetzliche zahl
von volksvertretern, und sie tun das nicht aus der ganzen summe der
teilnehmer an der souveränetät, sondern aus einer alljährlich von ihnen
in bestimmter gesetzlicher form aufgestellten summe von 6000 unbe-
scholtenen über 30 jahre alten bürgern. diese 6000 im ganzen sind
nur so viel wie zur beschlussfassung in sachen, die wie die processe
einen einzelnen bürger angehn, für die volksversammlung erfordert sind.
sie vertreten das ganze volk, sind aber selbst in jedem einzelnen pro-
cesse durch einen manchmal sehr geringen bruchteil (201) vertreten.
die legalfiction geht also sehr weit. die gerichte entscheiden oft nur
die schuldfrage, so dass damit nach massgabe des gesetzes die strafe ge-

Die verfassung der blütezeit.
oder lehnte ab. somit war immer ein individuum da, das die verant-
wortung für den souverän rechtlich und factisch trug. wer den sou-
verän zu ungesetzlichem verleiten wollte, konnte deswegen gerichtlich
belangt werden, und schon ein einzelner in der volksversammlung konnte
durch seinen einspruch, in der form einer klaganmeldung, einen antrag
oder beschluſs wenigstens suspendiren. falls aber das ungesetzliche oder
auch schädliche schon beschlossen oder geschehen war, so konnte der
belangt werden, der den demos ‘betrogen’ hatte. auch konnte jeder den
antragsteller verklagen, weil er ‘ein unpassendes gesetz beantragt hätte’.

Da es factisch undurchführbar war, daſs jeder einzelne bürger in
jedem falle von dem teile souveränetät, der auf ihn kam, gebrauch
machte, so war das volk oder auch die majorität der Athener durch
legalfiction vorhanden, wenn eine durch gesetz bestimmte vertretung der
gesammtheit factisch die souveränetät übte. das galt in wahrheit schon von
der volksversammlung, für deren sitzungen es keine numerische beschrän-
kung der beschluſsfähigkeit gab, auſser für besondere fälle, wo schrift-
liche abstimmung gefordert ward (νόμοι ἐπ̕ ἀνδϱί). aber davon zieht man
vor nicht zu reden. dagegen gilt der satz, daſs die richterliche, schlecht-
hin infallible und inappellable (ἀνυπεύϑυνος), übung der souveränetät,
ganz besondere ausnahmen abgerechnet, immer vom volke nur ideell,
factisch aber von einer vertretung desselben ausgeübt wird, deren stärke
das gesetz vorsah. das gericht ist rechtlich immer identisch mit dem
volke, sonst hätte sich seine unverantwortlichkeit gar nicht aufrecht halten
lassen. auch das gericht muſs berufen werden, entbehrt also der initia-
tive, und zwar geschieht dies, weil es eine sehr alte, spätestens solonische
einrichtung ist, durch die archonten, an die sich die übrigen beamten
zu wenden haben, wenn sie eine sache vor das volk zur richterlichen
entscheidung zu bringen wünschen. die archonten aber sind nicht frei
in der auswahl der volksvertretung, sondern erlosen die gesetzliche zahl
von volksvertretern, und sie tun das nicht aus der ganzen summe der
teilnehmer an der souveränetät, sondern aus einer alljährlich von ihnen
in bestimmter gesetzlicher form aufgestellten summe von 6000 unbe-
scholtenen über 30 jahre alten bürgern. diese 6000 im ganzen sind
nur so viel wie zur beschluſsfassung in sachen, die wie die processe
einen einzelnen bürger angehn, für die volksversammlung erfordert sind.
sie vertreten das ganze volk, sind aber selbst in jedem einzelnen pro-
cesse durch einen manchmal sehr geringen bruchteil (201) vertreten.
die legalfiction geht also sehr weit. die gerichte entscheiden oft nur
die schuldfrage, so daſs damit nach maſsgabe des gesetzes die strafe ge-

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[105/0115] Die verfassung der blütezeit. oder lehnte ab. somit war immer ein individuum da, das die verant- wortung für den souverän rechtlich und factisch trug. wer den sou- verän zu ungesetzlichem verleiten wollte, konnte deswegen gerichtlich belangt werden, und schon ein einzelner in der volksversammlung konnte durch seinen einspruch, in der form einer klaganmeldung, einen antrag oder beschluſs wenigstens suspendiren. falls aber das ungesetzliche oder auch schädliche schon beschlossen oder geschehen war, so konnte der belangt werden, der den demos ‘betrogen’ hatte. auch konnte jeder den antragsteller verklagen, weil er ‘ein unpassendes gesetz beantragt hätte’. Da es factisch undurchführbar war, daſs jeder einzelne bürger in jedem falle von dem teile souveränetät, der auf ihn kam, gebrauch machte, so war das volk oder auch die majorität der Athener durch legalfiction vorhanden, wenn eine durch gesetz bestimmte vertretung der gesammtheit factisch die souveränetät übte. das galt in wahrheit schon von der volksversammlung, für deren sitzungen es keine numerische beschrän- kung der beschluſsfähigkeit gab, auſser für besondere fälle, wo schrift- liche abstimmung gefordert ward (νόμοι ἐπ̕ ἀνδϱί). aber davon zieht man vor nicht zu reden. dagegen gilt der satz, daſs die richterliche, schlecht- hin infallible und inappellable (ἀνυπεύϑυνος), übung der souveränetät, ganz besondere ausnahmen abgerechnet, immer vom volke nur ideell, factisch aber von einer vertretung desselben ausgeübt wird, deren stärke das gesetz vorsah. das gericht ist rechtlich immer identisch mit dem volke, sonst hätte sich seine unverantwortlichkeit gar nicht aufrecht halten lassen. auch das gericht muſs berufen werden, entbehrt also der initia- tive, und zwar geschieht dies, weil es eine sehr alte, spätestens solonische einrichtung ist, durch die archonten, an die sich die übrigen beamten zu wenden haben, wenn sie eine sache vor das volk zur richterlichen entscheidung zu bringen wünschen. die archonten aber sind nicht frei in der auswahl der volksvertretung, sondern erlosen die gesetzliche zahl von volksvertretern, und sie tun das nicht aus der ganzen summe der teilnehmer an der souveränetät, sondern aus einer alljährlich von ihnen in bestimmter gesetzlicher form aufgestellten summe von 6000 unbe- scholtenen über 30 jahre alten bürgern. diese 6000 im ganzen sind nur so viel wie zur beschluſsfassung in sachen, die wie die processe einen einzelnen bürger angehn, für die volksversammlung erfordert sind. sie vertreten das ganze volk, sind aber selbst in jedem einzelnen pro- cesse durch einen manchmal sehr geringen bruchteil (201) vertreten. die legalfiction geht also sehr weit. die gerichte entscheiden oft nur die schuldfrage, so daſs damit nach maſsgabe des gesetzes die strafe ge-

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 2. Berlin, 1893, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles02_1893/115>, abgerufen am 20.04.2024.