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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Alter der classen.
zugleich der macht des beweglichen capitales mit einer alten auf den brutto-
ertrag der landwirtschaft gegründeten classeneinteilung? immerhin muss
ja wol irgendwann einmal die feste scala 500 300 200 scheffel statt der
älteren einfachen, die die wörter selbst bezeugen, beliebt sein; aber selbst
die bedeutung der classen war streitig, als die Atthis schriftstellerisch
bearbeitet ward. geht man nun ins sechste jahrhundert hinauf, so
hat Peisistratos bekanntlich eine reine einkommensteuer erhoben, also
viele jahre lang sind die classen höchstens als wahlqualification in be-
tracht gekommen, so weit die tyrannis die wahlgesetze functioniren
liess.15) und dass sie selbst zu Solons zeiten durchaus nicht die bedeu-
tung gehabt haben können, die uns durch den täuschenden schein nahe
gelegt wird, weil unsere berichte sie erst unter ihm erwähnen, folgt
am besten daraus, dass der nächstliegende gedanke niemandem kommt,
die veränderung des masses hätte doch eine verschiebung der staatlichen
rechte zur folge haben müssen. wenn Solon die scheffel grösser machte,
wie Aristoteles sagt, so verlangte er einen höheren census, schloss also
eine nicht geringe anzahl bürger vom passiven wahlrechte aus; machte
er aber den scheffel kleiner, wie er es wirklich getan hat, so wurde
selbst der Areopag einem weiteren kreise zugänglich. das ist eine not-
wendige folgerung. wenn sie niemand zieht, so war eben die classen-
teilung 594 schon eine nicht mehr den entwickelten verhältnissen an-
gemessene ältere institution.

Man muss doch die dinge nehmen, wie sie ihrer natur nach sind.
es ist eine einfache und verständige ordnung, in der bürgerschaft erst
einmal die arbeiter abzusondern, die proletarii, die für den staat nichts
weiter schaffen als die proles, dann die wehrfähigen des fussvolks und
der reiter, und darüber eine oberste schicht, die einzige in wahrheit,
die mehr einnimmt und besitzt, als für die führung eines standesgemässen

die drakontischen classen, noch dazu in der doppelten art ihrer bezeichnung, er-
finden konnten.
15) Da die demokratie directe steuern, auch als gemeindesteuern, nur im not-
falle erhebt, so fordert auch sie selbst für die wahlqualification nur eine ideelle
steuereinschätzung, ein fictives telos. wer sich zum archontenamte meldet, muss
vor der meldung und nachher, wenn er erlost ist, sich zu einem steuersatze,
d. h. zu einem einkommen bekennen. verificirt wird es nur, wenn bei der wahl-
prüfung ein einwand aus diesem grunde erhoben wird: davon ist mir kein special-
fall bekannt. offenbar sind die höheren stände viel mehr durch die öffentliche
meinung abgegrenzt worden, sehr viel exclusiver, als es durch die niedrigen sätze
der steuern möglich war. die liturgie aber ist ein anderes und viel wirksameres
steuerprincip. seit sie besteht, kommt auf die classen nicht mehr viel an.
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Alter der classen.
zugleich der macht des beweglichen capitales mit einer alten auf den brutto-
ertrag der landwirtschaft gegründeten classeneinteilung? immerhin muſs
ja wol irgendwann einmal die feste scala 500 300 200 scheffel statt der
älteren einfachen, die die wörter selbst bezeugen, beliebt sein; aber selbst
die bedeutung der classen war streitig, als die Atthis schriftstellerisch
bearbeitet ward. geht man nun ins sechste jahrhundert hinauf, so
hat Peisistratos bekanntlich eine reine einkommensteuer erhoben, also
viele jahre lang sind die classen höchstens als wahlqualification in be-
tracht gekommen, so weit die tyrannis die wahlgesetze functioniren
lieſs.15) und daſs sie selbst zu Solons zeiten durchaus nicht die bedeu-
tung gehabt haben können, die uns durch den täuschenden schein nahe
gelegt wird, weil unsere berichte sie erst unter ihm erwähnen, folgt
am besten daraus, daſs der nächstliegende gedanke niemandem kommt,
die veränderung des maſses hätte doch eine verschiebung der staatlichen
rechte zur folge haben müssen. wenn Solon die scheffel gröſser machte,
wie Aristoteles sagt, so verlangte er einen höheren census, schloſs also
eine nicht geringe anzahl bürger vom passiven wahlrechte aus; machte
er aber den scheffel kleiner, wie er es wirklich getan hat, so wurde
selbst der Areopag einem weiteren kreise zugänglich. das ist eine not-
wendige folgerung. wenn sie niemand zieht, so war eben die classen-
teilung 594 schon eine nicht mehr den entwickelten verhältnissen an-
gemessene ältere institution.

Man muſs doch die dinge nehmen, wie sie ihrer natur nach sind.
es ist eine einfache und verständige ordnung, in der bürgerschaft erst
einmal die arbeiter abzusondern, die proletarii, die für den staat nichts
weiter schaffen als die proles, dann die wehrfähigen des fuſsvolks und
der reiter, und darüber eine oberste schicht, die einzige in wahrheit,
die mehr einnimmt und besitzt, als für die führung eines standesgemäſsen

die drakontischen classen, noch dazu in der doppelten art ihrer bezeichnung, er-
finden konnten.
15) Da die demokratie directe steuern, auch als gemeindesteuern, nur im not-
falle erhebt, so fordert auch sie selbst für die wahlqualification nur eine ideelle
steuereinschätzung, ein fictives τέλος. wer sich zum archontenamte meldet, muſs
vor der meldung und nachher, wenn er erlost ist, sich zu einem steuersatze,
d. h. zu einem einkommen bekennen. verificirt wird es nur, wenn bei der wahl-
prüfung ein einwand aus diesem grunde erhoben wird: davon ist mir kein special-
fall bekannt. offenbar sind die höheren stände viel mehr durch die öffentliche
meinung abgegrenzt worden, sehr viel exclusiver, als es durch die niedrigen sätze
der steuern möglich war. die liturgie aber ist ein anderes und viel wirksameres
steuerprincip. seit sie besteht, kommt auf die classen nicht mehr viel an.
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[83/0097] Alter der classen. zugleich der macht des beweglichen capitales mit einer alten auf den brutto- ertrag der landwirtschaft gegründeten classeneinteilung? immerhin muſs ja wol irgendwann einmal die feste scala 500 300 200 scheffel statt der älteren einfachen, die die wörter selbst bezeugen, beliebt sein; aber selbst die bedeutung der classen war streitig, als die Atthis schriftstellerisch bearbeitet ward. geht man nun ins sechste jahrhundert hinauf, so hat Peisistratos bekanntlich eine reine einkommensteuer erhoben, also viele jahre lang sind die classen höchstens als wahlqualification in be- tracht gekommen, so weit die tyrannis die wahlgesetze functioniren lieſs. 15) und daſs sie selbst zu Solons zeiten durchaus nicht die bedeu- tung gehabt haben können, die uns durch den täuschenden schein nahe gelegt wird, weil unsere berichte sie erst unter ihm erwähnen, folgt am besten daraus, daſs der nächstliegende gedanke niemandem kommt, die veränderung des maſses hätte doch eine verschiebung der staatlichen rechte zur folge haben müssen. wenn Solon die scheffel gröſser machte, wie Aristoteles sagt, so verlangte er einen höheren census, schloſs also eine nicht geringe anzahl bürger vom passiven wahlrechte aus; machte er aber den scheffel kleiner, wie er es wirklich getan hat, so wurde selbst der Areopag einem weiteren kreise zugänglich. das ist eine not- wendige folgerung. wenn sie niemand zieht, so war eben die classen- teilung 594 schon eine nicht mehr den entwickelten verhältnissen an- gemessene ältere institution. Man muſs doch die dinge nehmen, wie sie ihrer natur nach sind. es ist eine einfache und verständige ordnung, in der bürgerschaft erst einmal die arbeiter abzusondern, die proletarii, die für den staat nichts weiter schaffen als die proles, dann die wehrfähigen des fuſsvolks und der reiter, und darüber eine oberste schicht, die einzige in wahrheit, die mehr einnimmt und besitzt, als für die führung eines standesgemäſsen 14) 15) Da die demokratie directe steuern, auch als gemeindesteuern, nur im not- falle erhebt, so fordert auch sie selbst für die wahlqualification nur eine ideelle steuereinschätzung, ein fictives τέλος. wer sich zum archontenamte meldet, muſs vor der meldung und nachher, wenn er erlost ist, sich zu einem steuersatze, d. h. zu einem einkommen bekennen. verificirt wird es nur, wenn bei der wahl- prüfung ein einwand aus diesem grunde erhoben wird: davon ist mir kein special- fall bekannt. offenbar sind die höheren stände viel mehr durch die öffentliche meinung abgegrenzt worden, sehr viel exclusiver, als es durch die niedrigen sätze der steuern möglich war. die liturgie aber ist ein anderes und viel wirksameres steuerprincip. seit sie besteht, kommt auf die classen nicht mehr viel an. 14) die drakontischen classen, noch dazu in der doppelten art ihrer bezeichnung, er- finden konnten. 6*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/97>, abgerufen am 25.04.2024.