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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 3. Solon.

Ergebnis.Erst jetzt, nachdem das capitel der Politik inhaltlich erklärt ist, kann
es dazu verwandt werden, weshalb seine besprechung eigentlich allein an
dieser stelle nötig war, die lobredner und tadler Solons kennen zu lehren.
die letzteren sind ganz offenbar dieselben blasphemein boulomenoi, mit
denen sich die Politie auseinandersetzt, denn an beiden orten wird der-
selbe vorwurf ähnlich zurückgewiesen. das ist also die kritik der oli-
garchen, welche wirklich die solonische verfassung umgestürzt haben.
schriften von ihnen kannte Aristoteles also vielleicht schon eh er an die
ausarbeitung der Politie gieng, aber wenn sie, was ich allerdings für sehr
wahrscheinlich halte, in den Atthiden, die Aristoteles vorwiegend benutzt,
abgewiesen, also auch ihre urteile angeführt waren, so ist für uns weder
möglich noch wichtig zu wissen, was Aristoteles hier oder dort ihnen
direct oder indirect verdankt. erst wenn wir mehr auf diese tradition
zurückführen können, mag sich das aufhellen. in jedem falle vernehmen
wir einen nachhall der leidenschaftlichen angriffe, welche den stifter der
demokratie trafen, weil die oligarchische reaction sein werk beseitigen
wollte.

Dagegen zeigt die verteidigung durch die demotikoi, von der die
Politie berichtet, keine verwandtschaft mit seinen lobrednern in der
Politik. diese sind gar keine demokraten, denn sie loben die gute
mischung seiner verfassung. sie haben geurteilt, dass jede der drei seit
der sophistenzeit und schon früher 48) anerkannten verfassungsformen ein
gutes teil berechtigung hätte, und darum für die wirklich gute verfas-
sung eine mischung der drei elemente verlangt. sie haben sie in der
solonischen und ganz besonders in der lykurgischen gefunden (1265b 33),
denn da reden offenbar dieselben leute, und für diese beurteilung Spartas,
also das alter dieser theorie zeugen nachdrücklich Isokrates Panath. 153,
und schon Platon Ges. IV 712d. bekanntlich hat dieser, in der plato-
nischen 49) und aristotelischen theorie nicht anerkannte gedanke der mischung,
später, vielleicht bei Dikaiarchos 50), sicher in der jüngeren Stoa 51) und

48) Pindar Pyth. 2, 87.
49) Platons ganzer weise musste dieses complicirte system zuwider sein: er
hat nur einen skopos im gegensatze zu den andern, wie er es Ges. 12, 963 aus-
drückt, die arete; der Staat sucht die dikaiosune. die reinheit kann keine mischung
vertragen. dass er in den Gesetzen einzelne bestimmungen trifft, die auf eine meixis
des monarchischen und demokratischen hinauslaufen, und Aristoteles in der Politik
(D 1294b 35 u. ö.) das eu memeikhthai ten politeian auch als ziel hinstellt, macht
für beider tendenz nichts aus, geht auch zumeist nur kleinigkeiten an.
50) Sicher ist das nicht, denn der Byzantiner (Phot. cod. 37) der den patri-
cius Menas mit dem referendarius Thomas ein neues eidos politeias erfinden lässt,
51) Vermutlich auch schon der älteren; wenigstens wird in dem abriss der
ethik bei Diogenes 7, 131 die meixis gefordert, und da gehn die Kynismen der
Politie Zenons unmittelbar vorher.
I. 3. Solon.

Ergebnis.Erst jetzt, nachdem das capitel der Politik inhaltlich erklärt ist, kann
es dazu verwandt werden, weshalb seine besprechung eigentlich allein an
dieser stelle nötig war, die lobredner und tadler Solons kennen zu lehren.
die letzteren sind ganz offenbar dieselben βλασφημεῖν βουλόμενοι, mit
denen sich die Politie auseinandersetzt, denn an beiden orten wird der-
selbe vorwurf ähnlich zurückgewiesen. das ist also die kritik der oli-
garchen, welche wirklich die solonische verfassung umgestürzt haben.
schriften von ihnen kannte Aristoteles also vielleicht schon eh er an die
ausarbeitung der Politie gieng, aber wenn sie, was ich allerdings für sehr
wahrscheinlich halte, in den Atthiden, die Aristoteles vorwiegend benutzt,
abgewiesen, also auch ihre urteile angeführt waren, so ist für uns weder
möglich noch wichtig zu wissen, was Aristoteles hier oder dort ihnen
direct oder indirect verdankt. erst wenn wir mehr auf diese tradition
zurückführen können, mag sich das aufhellen. in jedem falle vernehmen
wir einen nachhall der leidenschaftlichen angriffe, welche den stifter der
demokratie trafen, weil die oligarchische reaction sein werk beseitigen
wollte.

Dagegen zeigt die verteidigung durch die δημοτικοί, von der die
Politie berichtet, keine verwandtschaft mit seinen lobrednern in der
Politik. diese sind gar keine demokraten, denn sie loben die gute
mischung seiner verfassung. sie haben geurteilt, daſs jede der drei seit
der sophistenzeit und schon früher 48) anerkannten verfassungsformen ein
gutes teil berechtigung hätte, und darum für die wirklich gute verfas-
sung eine mischung der drei elemente verlangt. sie haben sie in der
solonischen und ganz besonders in der lykurgischen gefunden (1265b 33),
denn da reden offenbar dieselben leute, und für diese beurteilung Spartas,
also das alter dieser theorie zeugen nachdrücklich Isokrates Panath. 153,
und schon Platon Ges. IV 712d. bekanntlich hat dieser, in der plato-
nischen 49) und aristotelischen theorie nicht anerkannte gedanke der mischung,
später, vielleicht bei Dikaiarchos 50), sicher in der jüngeren Stoa 51) und

48) Pindar Pyth. 2, 87.
49) Platons ganzer weise muſste dieses complicirte system zuwider sein: er
hat nur einen σκοπός im gegensatze zu den andern, wie er es Ges. 12, 963 aus-
drückt, die ἀϱετή; der Staat sucht die δικαιοσύνη. die reinheit kann keine mischung
vertragen. daſs er in den Gesetzen einzelne bestimmungen trifft, die auf eine μεῖξις
des monarchischen und demokratischen hinauslaufen, und Aristoteles in der Politik
(Δ 1294b 35 u. ö.) das εὖ μεμεῖχϑαι τὴν πολιτείαν auch als ziel hinstellt, macht
für beider tendenz nichts aus, geht auch zumeist nur kleinigkeiten an.
50) Sicher ist das nicht, denn der Byzantiner (Phot. cod. 37) der den patri-
cius Menas mit dem referendarius Thomas ein neues εἶδος πολιτείας erfinden läſst,
51) Vermutlich auch schon der älteren; wenigstens wird in dem abriſs der
ethik bei Diogenes 7, 131 die μεῖξις gefordert, und da gehn die Kynismen der
Politie Zenons unmittelbar vorher.
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[74/0088] I. 3. Solon. Erst jetzt, nachdem das capitel der Politik inhaltlich erklärt ist, kann es dazu verwandt werden, weshalb seine besprechung eigentlich allein an dieser stelle nötig war, die lobredner und tadler Solons kennen zu lehren. die letzteren sind ganz offenbar dieselben βλασφημεῖν βουλόμενοι, mit denen sich die Politie auseinandersetzt, denn an beiden orten wird der- selbe vorwurf ähnlich zurückgewiesen. das ist also die kritik der oli- garchen, welche wirklich die solonische verfassung umgestürzt haben. schriften von ihnen kannte Aristoteles also vielleicht schon eh er an die ausarbeitung der Politie gieng, aber wenn sie, was ich allerdings für sehr wahrscheinlich halte, in den Atthiden, die Aristoteles vorwiegend benutzt, abgewiesen, also auch ihre urteile angeführt waren, so ist für uns weder möglich noch wichtig zu wissen, was Aristoteles hier oder dort ihnen direct oder indirect verdankt. erst wenn wir mehr auf diese tradition zurückführen können, mag sich das aufhellen. in jedem falle vernehmen wir einen nachhall der leidenschaftlichen angriffe, welche den stifter der demokratie trafen, weil die oligarchische reaction sein werk beseitigen wollte. Ergebnis. Dagegen zeigt die verteidigung durch die δημοτικοί, von der die Politie berichtet, keine verwandtschaft mit seinen lobrednern in der Politik. diese sind gar keine demokraten, denn sie loben die gute mischung seiner verfassung. sie haben geurteilt, daſs jede der drei seit der sophistenzeit und schon früher 48) anerkannten verfassungsformen ein gutes teil berechtigung hätte, und darum für die wirklich gute verfas- sung eine mischung der drei elemente verlangt. sie haben sie in der solonischen und ganz besonders in der lykurgischen gefunden (1265b 33), denn da reden offenbar dieselben leute, und für diese beurteilung Spartas, also das alter dieser theorie zeugen nachdrücklich Isokrates Panath. 153, und schon Platon Ges. IV 712d. bekanntlich hat dieser, in der plato- nischen 49) und aristotelischen theorie nicht anerkannte gedanke der mischung, später, vielleicht bei Dikaiarchos 50), sicher in der jüngeren Stoa 51) und 48) Pindar Pyth. 2, 87. 49) Platons ganzer weise muſste dieses complicirte system zuwider sein: er hat nur einen σκοπός im gegensatze zu den andern, wie er es Ges. 12, 963 aus- drückt, die ἀϱετή; der Staat sucht die δικαιοσύνη. die reinheit kann keine mischung vertragen. daſs er in den Gesetzen einzelne bestimmungen trifft, die auf eine μεῖξις des monarchischen und demokratischen hinauslaufen, und Aristoteles in der Politik (Δ 1294b 35 u. ö.) das εὖ μεμεῖχϑαι τὴν πολιτείαν auch als ziel hinstellt, macht für beider tendenz nichts aus, geht auch zumeist nur kleinigkeiten an. 50) Sicher ist das nicht, denn der Byzantiner (Phot. cod. 37) der den patri- cius Menas mit dem referendarius Thomas ein neues εἶδος πολιτείας erfinden läſst, 51) Vermutlich auch schon der älteren; wenigstens wird in dem abriſs der ethik bei Diogenes 7, 131 die μεῖξις gefordert, und da gehn die Kynismen der Politie Zenons unmittelbar vorher.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/88>, abgerufen am 25.04.2024.