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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Politik B 12.
widersteht er der freude an einer guten geschichte nicht leicht. ganz
eben so stümperhaft wäre es, wenn Aristoteles in diesem zusammenhange
Phaleas und Platon genannt hätte, nicht weil er von ihnen schon ge-
handelt hat, sondern weil sie als theoretiker aus diesem kreise heraus-
fallen. und was von diesen beiden gesagt wird, ist aus sich heraus gar
nicht verständlich: bei einer "ausgleichung des besitzes", die von Phaleas
angeführt wird, kann sich niemand ohne weiteres etwas denken. folg-
lich hat nicht Aristoteles, sondern ein leser diese recapitulation (1274b
9--15) eingefügt. dadurch werden die letzten bemerkungen über Drakon,
Pittakos und Androdamas einigermassen mit verdächtigt, da für sie die
vorbereitung oben nicht mehr zieht. indessen können die bemerkungen,
welche diese drei als minderwertig abtun mit dem fremden zusatze
nicht in einem zuge geschrieben sein, wol aber mit den ächten worten
über Philolaos und Charondas. also behaupten die letzten sätze ihren platz,
bis sie jemand aus sich der unächtheit überführt. man wird aber nicht
leugnen, dass Drakon und Pittakos ein wort mindestens ebenso ver-
dienten wie Philolaos. was von Pittakos erwähnt wird, die ablehnung
der trunkenheit als mildernder umstand, ist von Aristoteles in der Rhe-
torik (II 25) erwähnt; es war eine allgemein bekannte singularität.
Drakon wird ebenfalls genau so beurteilt, wie es von der öffentlichen
meinung und der attischen chronik geschah (Plut. Sol. 17). der wider-
spruch mit der Politie ist allerdings vorhanden, aber dort ist seine ver-
fassung eine einlage, und nichts verbietet anzunehmen, dass Aristoteles
ein jahrzehnt oder auch fünf jahre später etwas neues zugelernt habe.
vielleicht wird mancher mit mir die ächtheit dieser sätze besonders
um des sonst ganz unbekannten Androdamas willen glauben. dieser
Rheginer hat den städten auf der Chalkidike ihre gesetze verfasst. der
Stagirite Aristoteles war also unter ihnen aufgewachsen: wem lag der
name näher als ihm, und wenn gerade gesetze über blutrecht und über
erbtöchter von ihm flüchtig erwähnt werden, so glaubt man die ge-
dankenverbindung zu erkennen, die den Aristoteles von Solon und Drakon
auf Androdamas führte, wenn auch nur um diese kindheitserinnerung
mit einem worte abzutun.

Schliesslich kommt auf diese letzten sätze nicht eben viel an. um
so mehr auf die beurteilung Solons, die eben so weise wie klug ge-
schrieben ist, weise, weil sie gerecht ist, klug, weil sie es dem hörer
überlässt, das urteil zu formuliren, das ihm durch die billige abwägung
anderer urteile vorbereitet ist.

"Einige halten Solon für einen guten gesetzgeber; er habe eine

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Politik B 12.
widersteht er der freude an einer guten geschichte nicht leicht. ganz
eben so stümperhaft wäre es, wenn Aristoteles in diesem zusammenhange
Phaleas und Platon genannt hätte, nicht weil er von ihnen schon ge-
handelt hat, sondern weil sie als theoretiker aus diesem kreise heraus-
fallen. und was von diesen beiden gesagt wird, ist aus sich heraus gar
nicht verständlich: bei einer “ausgleichung des besitzes”, die von Phaleas
angeführt wird, kann sich niemand ohne weiteres etwas denken. folg-
lich hat nicht Aristoteles, sondern ein leser diese recapitulation (1274b
9—15) eingefügt. dadurch werden die letzten bemerkungen über Drakon,
Pittakos und Androdamas einigermaſsen mit verdächtigt, da für sie die
vorbereitung oben nicht mehr zieht. indessen können die bemerkungen,
welche diese drei als minderwertig abtun mit dem fremden zusatze
nicht in einem zuge geschrieben sein, wol aber mit den ächten worten
über Philolaos und Charondas. also behaupten die letzten sätze ihren platz,
bis sie jemand aus sich der unächtheit überführt. man wird aber nicht
leugnen, daſs Drakon und Pittakos ein wort mindestens ebenso ver-
dienten wie Philolaos. was von Pittakos erwähnt wird, die ablehnung
der trunkenheit als mildernder umstand, ist von Aristoteles in der Rhe-
torik (II 25) erwähnt; es war eine allgemein bekannte singularität.
Drakon wird ebenfalls genau so beurteilt, wie es von der öffentlichen
meinung und der attischen chronik geschah (Plut. Sol. 17). der wider-
spruch mit der Politie ist allerdings vorhanden, aber dort ist seine ver-
fassung eine einlage, und nichts verbietet anzunehmen, daſs Aristoteles
ein jahrzehnt oder auch fünf jahre später etwas neues zugelernt habe.
vielleicht wird mancher mit mir die ächtheit dieser sätze besonders
um des sonst ganz unbekannten Androdamas willen glauben. dieser
Rheginer hat den städten auf der Chalkidike ihre gesetze verfaſst. der
Stagirite Aristoteles war also unter ihnen aufgewachsen: wem lag der
name näher als ihm, und wenn gerade gesetze über blutrecht und über
erbtöchter von ihm flüchtig erwähnt werden, so glaubt man die ge-
dankenverbindung zu erkennen, die den Aristoteles von Solon und Drakon
auf Androdamas führte, wenn auch nur um diese kindheitserinnerung
mit einem worte abzutun.

Schlieſslich kommt auf diese letzten sätze nicht eben viel an. um
so mehr auf die beurteilung Solons, die eben so weise wie klug ge-
schrieben ist, weise, weil sie gerecht ist, klug, weil sie es dem hörer
überläſst, das urteil zu formuliren, das ihm durch die billige abwägung
anderer urteile vorbereitet ist.

“Einige halten Solon für einen guten gesetzgeber; er habe eine

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[67/0081] Politik B 12. widersteht er der freude an einer guten geschichte nicht leicht. ganz eben so stümperhaft wäre es, wenn Aristoteles in diesem zusammenhange Phaleas und Platon genannt hätte, nicht weil er von ihnen schon ge- handelt hat, sondern weil sie als theoretiker aus diesem kreise heraus- fallen. und was von diesen beiden gesagt wird, ist aus sich heraus gar nicht verständlich: bei einer “ausgleichung des besitzes”, die von Phaleas angeführt wird, kann sich niemand ohne weiteres etwas denken. folg- lich hat nicht Aristoteles, sondern ein leser diese recapitulation (1274b 9—15) eingefügt. dadurch werden die letzten bemerkungen über Drakon, Pittakos und Androdamas einigermaſsen mit verdächtigt, da für sie die vorbereitung oben nicht mehr zieht. indessen können die bemerkungen, welche diese drei als minderwertig abtun mit dem fremden zusatze nicht in einem zuge geschrieben sein, wol aber mit den ächten worten über Philolaos und Charondas. also behaupten die letzten sätze ihren platz, bis sie jemand aus sich der unächtheit überführt. man wird aber nicht leugnen, daſs Drakon und Pittakos ein wort mindestens ebenso ver- dienten wie Philolaos. was von Pittakos erwähnt wird, die ablehnung der trunkenheit als mildernder umstand, ist von Aristoteles in der Rhe- torik (II 25) erwähnt; es war eine allgemein bekannte singularität. Drakon wird ebenfalls genau so beurteilt, wie es von der öffentlichen meinung und der attischen chronik geschah (Plut. Sol. 17). der wider- spruch mit der Politie ist allerdings vorhanden, aber dort ist seine ver- fassung eine einlage, und nichts verbietet anzunehmen, daſs Aristoteles ein jahrzehnt oder auch fünf jahre später etwas neues zugelernt habe. vielleicht wird mancher mit mir die ächtheit dieser sätze besonders um des sonst ganz unbekannten Androdamas willen glauben. dieser Rheginer hat den städten auf der Chalkidike ihre gesetze verfaſst. der Stagirite Aristoteles war also unter ihnen aufgewachsen: wem lag der name näher als ihm, und wenn gerade gesetze über blutrecht und über erbtöchter von ihm flüchtig erwähnt werden, so glaubt man die ge- dankenverbindung zu erkennen, die den Aristoteles von Solon und Drakon auf Androdamas führte, wenn auch nur um diese kindheitserinnerung mit einem worte abzutun. Schlieſslich kommt auf diese letzten sätze nicht eben viel an. um so mehr auf die beurteilung Solons, die eben so weise wie klug ge- schrieben ist, weise, weil sie gerecht ist, klug, weil sie es dem hörer überläſst, das urteil zu formuliren, das ihm durch die billige abwägung anderer urteile vorbereitet ist. “Einige halten Solon für einen guten gesetzgeber; er habe eine 5*

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/81>, abgerufen am 16.04.2024.