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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Politik B 12.
demokratische freiheit und gleichheit begründet haben sollte, allstündlich
in allen gerichtshöfen ertönte, und man wird darin den sarkastischen zug
des meisters nicht verkennen, der auch in der Politie die stärksten
wirkungen erzielt, wenn er die frappanten tatsachen lediglich so hinstellt,
dass sie durch ihren gegensatz den leser zwingen, die notwendigen folge-
rungen selbst zu ziehen. der lehrer des Alexandros musste freilich behutsam
vorgehn, aber er besass die kunst, alles sagen zu können, und sein zuhörer-
kreis verstand ihn. er holt scheinbar weit aus "über politik haben sich teils
männer verbreitet, die dem öffentlichen leben ganz fern standen: über diese
ist das nötige bemerkt; teils waren sie politisch tätig, und auch von diesen
sind manche nur als gesetzgeber, in ihrem eignen oder in einem fremden
lande, aufgetreten, und nur einzelne haben neben den gesetzen auch
eine verfassung gegeben, wie Lykurg und Solon." da ist der name ge-
fallen, und die beurteilung folgt. wozu der umweg, der eine neue über-
leitung und die erneute erklärung nötig macht, dass Sparta erledigt wäre?
zweierlei wird damit erreicht. erstens wird Solons bedeutung gebührend
erhoben; denn er hat geleistet, was dazu berechtigt ihn wirklich mit
Lykurg in einem atem zu nennen: er hat eine verfassung begründet.
Aristoteles ist hier klar geworden, was sonst der hellenischen sprache
und entsprechend dem hellenischen denken fern liegt, der unterschied
zwischen einem gesetzbuche und einer verfassung. nomoi und nomo-
thetes schliesst gemeiniglich und besonders von Solon gesagt die ver-
fassung d. h. das staatsgrundgesetz ein; auch Aristoteles, schon in der
nächsten zeile, redet so. ja Aristoteles hat so fein geschieden, dass wir
versucht sind, ihn selbst mit dieser unterscheidung zu meistern: Lykurg
hat wol eine politeia, aber keine nomoi gegeben. dies also dient der
hervorhebung Solons. das zweite ist, dass andere hochberühmte gesetz-
geber hiermit von der berücksichtigung ausgeschlossen sind. wenn uns
Charondas 36) und Zaleukos sofort einfallen, wie sollte es den zuhörern des

36) Dass die gesetze des Charondas in Kos galten, dürfen wir trotz der neben-
form Khairondas dem Herodas 2, 48 entnehmen. die einführung dieser gesetze,
der von Kos, verfügt Lysimachos für Lebedos (Ditt. Syll. 126). aus Strabon XII 539
wissen wir, dass die des Charondas in Mazaka galten. wir werden vermuten dürfen,
dass Kos der ausgangspunkt für ein nicht unbeträchtliches herrschaftsgebiet dieses
gesetzbuches war, und Kos ist 366 durch einen bedeutsamen sunoikismos neu-
gegründet. damals hat man mit überlegung ein gesetzbuch gewählt. es ist recht
merkwürdig, dass die Chalkidier des Westens so früh bedeutende codificationen
vornehmen, und ein Rheginer wieder bei den Chalkidiern in Thrakien ein rechtsbuch
entwirft. in Syrakus hat diese codification durch Diokles 413 stattgefunden (Diodor.
XIII 33). etwa ein menschenalter vorher in Rom: um griechisches recht zu
v. Wilamowitz, Aristoteles. 5

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demokratische freiheit und gleichheit begründet haben sollte, allstündlich
in allen gerichtshöfen ertönte, und man wird darin den sarkastischen zug
des meisters nicht verkennen, der auch in der Politie die stärksten
wirkungen erzielt, wenn er die frappanten tatsachen lediglich so hinstellt,
daſs sie durch ihren gegensatz den leser zwingen, die notwendigen folge-
rungen selbst zu ziehen. der lehrer des Alexandros muſste freilich behutsam
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kreis verstand ihn. er holt scheinbar weit aus “über politik haben sich teils
männer verbreitet, die dem öffentlichen leben ganz fern standen: über diese
ist das nötige bemerkt; teils waren sie politisch tätig, und auch von diesen
sind manche nur als gesetzgeber, in ihrem eignen oder in einem fremden
lande, aufgetreten, und nur einzelne haben neben den gesetzen auch
eine verfassung gegeben, wie Lykurg und Solon.” da ist der name ge-
fallen, und die beurteilung folgt. wozu der umweg, der eine neue über-
leitung und die erneute erklärung nötig macht, daſs Sparta erledigt wäre?
zweierlei wird damit erreicht. erstens wird Solons bedeutung gebührend
erhoben; denn er hat geleistet, was dazu berechtigt ihn wirklich mit
Lykurg in einem atem zu nennen: er hat eine verfassung begründet.
Aristoteles ist hier klar geworden, was sonst der hellenischen sprache
und entsprechend dem hellenischen denken fern liegt, der unterschied
zwischen einem gesetzbuche und einer verfassung. νόμοι und νομο-
ϑέτης schlieſst gemeiniglich und besonders von Solon gesagt die ver-
fassung d. h. das staatsgrundgesetz ein; auch Aristoteles, schon in der
nächsten zeile, redet so. ja Aristoteles hat so fein geschieden, daſs wir
versucht sind, ihn selbst mit dieser unterscheidung zu meistern: Lykurg
hat wol eine πολιτεία, aber keine νόμοι gegeben. dies also dient der
hervorhebung Solons. das zweite ist, daſs andere hochberühmte gesetz-
geber hiermit von der berücksichtigung ausgeschlossen sind. wenn uns
Charondas 36) und Zaleukos sofort einfallen, wie sollte es den zuhörern des

36) Daſs die gesetze des Charondas in Kos galten, dürfen wir trotz der neben-
form Χαιϱώνδας dem Herodas 2, 48 entnehmen. die einführung dieser gesetze,
der von Kos, verfügt Lysimachos für Lebedos (Ditt. Syll. 126). aus Strabon XII 539
wissen wir, daſs die des Charondas in Mazaka galten. wir werden vermuten dürfen,
daſs Kos der ausgangspunkt für ein nicht unbeträchtliches herrschaftsgebiet dieses
gesetzbuches war, und Kos ist 366 durch einen bedeutsamen συνοικισμός neu-
gegründet. damals hat man mit überlegung ein gesetzbuch gewählt. es ist recht
merkwürdig, daſs die Chalkidier des Westens so früh bedeutende codificationen
vornehmen, und ein Rheginer wieder bei den Chalkidiern in Thrakien ein rechtsbuch
entwirft. in Syrakus hat diese codification durch Diokles 413 stattgefunden (Diodor.
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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/79>, abgerufen am 23.04.2024.