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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 3. Solon.
teil folgern. und als nun Drakon seine verfassung gegeben hat, was
folgt? "die schuldknechtschaft und die latifundien blieben wie sie waren,
das volk erhob sich wider den adel und beide parteien standen sich
lange in bitterer fehde gegenüber, bis Solon kam (4. ende, 5 anf.)."
also wir sind wo wir waren; Drakons wirken geht spurlos vorüber,
wieder folgt eine lange zeit der fehde. wer der wissenschaftlichen be-
wegung eine weile zugesehen hat, der kann sich selbst schon sagen,
dass der versuch nicht ausbleibt, an solcher stelle den bösen mann zu
rufen, dessen interpolatorentücke die wiederholung verschuldet hat. ein
solcher appell an eine mythische person ist der ausdruck einer em-
pfindung, die an sich sehr richtig ist. auch hier ist allerdings die zweite
"lange fehde" eine dublette der ersten, und es könnte nicht nur mit
leiser stilistischer änderung 5, 2 auf 3 folgen, es geht wirklich der zu-
sammenhang von 3 zu 5 weiter, und Aristoteles hat ihn nur durch eine
auch für uns kenntliche einlage unterbrochen. aber er hat das alles
getan, hat ja auch mit osper eiretai den hauptpunkt, die schuldknecht-
schaft, von neuem hervorgehoben. es ist sehr wertvoll, aber an sich
gar nicht auffällig, dass Aristoteles irgendwoher einen bericht über Dra-
kons verfassung aufgriff, der freilich nicht nur uns bis zur auffindung
der Politie ganz unbekannt war, der auch in der chronik, seiner sonstigen
quelle, fehlte, sondern den er selbst noch nicht gekannt hatte, als er
seine vorträge über die Politik hielt und das schlusscapitel ihres zweiten
buches schrieb. diesen bericht legte er in die chronik ein; hat das
allerdings in einer weise getan, die uns ermöglicht, die zusammenfügung
zu erkennen. in der chronik stand zum archon Aristaichmos etwa
Drakon tous thesmous etheken, und Aristaichmos folgte bald auf Megakles,
unter dem das gericht über die Alkmeoniden gehalten war, und den
Aristoteles selbst auch genannt hat. im übrigen waren viele jahre leer,
aber unter Solon oder vor ihm war eine schilderung der stasis und
ihrer ursachen gegeben, die zu der seisachthie führten. und gelegentlich
der nomothesie Solons wird auch die abschaffung der gesetze Drakons
mit ausnahme des blutrechts angegeben gewesen sein, wie bei Aristo-
teles 7, 1 und Plutarch 17. eine solche erzählung als grundlage der
aristotelischen lässt alles ganz natürlich erscheinen. und wir besitzen
noch eine solche. bei Plutarch folgt auf die erzählung von dem adels-
gericht und von Epimenides, die ganz zu Aristoteles stimmt, eine schil-
derung der socialen not mit dem schlagworte der ektemorioi: unmittelbar
darauf erscheint Solon und die seisachthie28). von Drakon kein wort.

28) Dass Plutarch 13 aus eigenem irrtum seine schilderung, um sie lebhafter zu

I. 3. Solon.
teil folgern. und als nun Drakon seine verfassung gegeben hat, was
folgt? “die schuldknechtschaft und die latifundien blieben wie sie waren,
das volk erhob sich wider den adel und beide parteien standen sich
lange in bitterer fehde gegenüber, bis Solon kam (4. ende, 5 anf.).”
also wir sind wo wir waren; Drakons wirken geht spurlos vorüber,
wieder folgt eine lange zeit der fehde. wer der wissenschaftlichen be-
wegung eine weile zugesehen hat, der kann sich selbst schon sagen,
daſs der versuch nicht ausbleibt, an solcher stelle den bösen mann zu
rufen, dessen interpolatorentücke die wiederholung verschuldet hat. ein
solcher appell an eine mythische person ist der ausdruck einer em-
pfindung, die an sich sehr richtig ist. auch hier ist allerdings die zweite
“lange fehde” eine dublette der ersten, und es könnte nicht nur mit
leiser stilistischer änderung 5, 2 auf 3 folgen, es geht wirklich der zu-
sammenhang von 3 zu 5 weiter, und Aristoteles hat ihn nur durch eine
auch für uns kenntliche einlage unterbrochen. aber ér hat das alles
getan, hat ja auch mit ὥσπεϱ εἴϱηται den hauptpunkt, die schuldknecht-
schaft, von neuem hervorgehoben. es ist sehr wertvoll, aber an sich
gar nicht auffällig, daſs Aristoteles irgendwoher einen bericht über Dra-
kons verfassung aufgriff, der freilich nicht nur uns bis zur auffindung
der Politie ganz unbekannt war, der auch in der chronik, seiner sonstigen
quelle, fehlte, sondern den er selbst noch nicht gekannt hatte, als er
seine vorträge über die Politik hielt und das schluſscapitel ihres zweiten
buches schrieb. diesen bericht legte er in die chronik ein; hat das
allerdings in einer weise getan, die uns ermöglicht, die zusammenfügung
zu erkennen. in der chronik stand zum archon Aristaichmos etwa
Δϱάκων τοὺς ϑεσμοὺς ἔϑηκεν, und Aristaichmos folgte bald auf Megakles,
unter dem das gericht über die Alkmeoniden gehalten war, und den
Aristoteles selbst auch genannt hat. im übrigen waren viele jahre leer,
aber unter Solon oder vor ihm war eine schilderung der στάσις und
ihrer ursachen gegeben, die zu der seisachthie führten. und gelegentlich
der nomothesie Solons wird auch die abschaffung der gesetze Drakons
mit ausnahme des blutrechts angegeben gewesen sein, wie bei Aristo-
teles 7, 1 und Plutarch 17. eine solche erzählung als grundlage der
aristotelischen läſst alles ganz natürlich erscheinen. und wir besitzen
noch eine solche. bei Plutarch folgt auf die erzählung von dem adels-
gericht und von Epimenides, die ganz zu Aristoteles stimmt, eine schil-
derung der socialen not mit dem schlagworte der ἑκτημόϱιοι: unmittelbar
darauf erscheint Solon und die seisachthie28). von Drakon kein wort.

28) Daſs Plutarch 13 aus eigenem irrtum seine schilderung, um sie lebhafter zu
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[58/0072] I. 3. Solon. teil folgern. und als nun Drakon seine verfassung gegeben hat, was folgt? “die schuldknechtschaft und die latifundien blieben wie sie waren, das volk erhob sich wider den adel und beide parteien standen sich lange in bitterer fehde gegenüber, bis Solon kam (4. ende, 5 anf.).” also wir sind wo wir waren; Drakons wirken geht spurlos vorüber, wieder folgt eine lange zeit der fehde. wer der wissenschaftlichen be- wegung eine weile zugesehen hat, der kann sich selbst schon sagen, daſs der versuch nicht ausbleibt, an solcher stelle den bösen mann zu rufen, dessen interpolatorentücke die wiederholung verschuldet hat. ein solcher appell an eine mythische person ist der ausdruck einer em- pfindung, die an sich sehr richtig ist. auch hier ist allerdings die zweite “lange fehde” eine dublette der ersten, und es könnte nicht nur mit leiser stilistischer änderung 5, 2 auf 3 folgen, es geht wirklich der zu- sammenhang von 3 zu 5 weiter, und Aristoteles hat ihn nur durch eine auch für uns kenntliche einlage unterbrochen. aber ér hat das alles getan, hat ja auch mit ὥσπεϱ εἴϱηται den hauptpunkt, die schuldknecht- schaft, von neuem hervorgehoben. es ist sehr wertvoll, aber an sich gar nicht auffällig, daſs Aristoteles irgendwoher einen bericht über Dra- kons verfassung aufgriff, der freilich nicht nur uns bis zur auffindung der Politie ganz unbekannt war, der auch in der chronik, seiner sonstigen quelle, fehlte, sondern den er selbst noch nicht gekannt hatte, als er seine vorträge über die Politik hielt und das schluſscapitel ihres zweiten buches schrieb. diesen bericht legte er in die chronik ein; hat das allerdings in einer weise getan, die uns ermöglicht, die zusammenfügung zu erkennen. in der chronik stand zum archon Aristaichmos etwa Δϱάκων τοὺς ϑεσμοὺς ἔϑηκεν, und Aristaichmos folgte bald auf Megakles, unter dem das gericht über die Alkmeoniden gehalten war, und den Aristoteles selbst auch genannt hat. im übrigen waren viele jahre leer, aber unter Solon oder vor ihm war eine schilderung der στάσις und ihrer ursachen gegeben, die zu der seisachthie führten. und gelegentlich der nomothesie Solons wird auch die abschaffung der gesetze Drakons mit ausnahme des blutrechts angegeben gewesen sein, wie bei Aristo- teles 7, 1 und Plutarch 17. eine solche erzählung als grundlage der aristotelischen läſst alles ganz natürlich erscheinen. und wir besitzen noch eine solche. bei Plutarch folgt auf die erzählung von dem adels- gericht und von Epimenides, die ganz zu Aristoteles stimmt, eine schil- derung der socialen not mit dem schlagworte der ἑκτημόϱιοι: unmittelbar darauf erscheint Solon und die seisachthie 28). von Drakon kein wort. 28) Daſs Plutarch 13 aus eigenem irrtum seine schilderung, um sie lebhafter zu

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/72>, abgerufen am 19.04.2024.