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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die verfassung. die vorsolonische zeit.
ihm persönlich nichts weiter als der allerdings meisterhafte sarkasmus
mit dem er anmerkt, dass noch jetzt niemand sich als thete bei der
meldung zu einem amte bekennt, weil die classen gesetzlich nie abge-
schafft sind, und dass noch jetzt, wenn auch praktisch ganz unwirksam,
der solonische höchste census von den schatzmeistern gefordert wird.
nur der sarkasmus gehört ihm, die stilistische form, schwerlich die
beobachtung der tatsachen, wenigstens der zweiten. denn hier steht sie
in einem der beweise, die für die solonischen institutionen beigebracht
werden, ist also nach der analogie der übrigen zu beurteilen, und
wenn er in dem darstellenden teile darauf zurückkommt (47,1), so ist
das verdächtig. da es die einzige stelle dort ist, die zwischen gesetz und
praxis einen widerspruch notirt, so liegt am nächsten, dass er dort ver-
wertet, was er gelegentlich aus einer darstellung der solonischen ver-
fassung gelernt hat, die hier wie sonst häufig durch rückschlüsse ein bild
der alten institutionen gewann. dass dies der weg war, den man schon zwei
menschenalter vor Aristoteles gehn musste, ist wichtig zu wissen: es gab
also weder eine geschichtliche aufzeichnung verlässlicher art noch gerade
diese solonischen gesetze mehr, so viel axones und kurbeis auch erhalten
waren, während doch blutrecht und privatrecht und viele einzelne
satzungen aufgezeichnet waren. wenn man bedenkt, dass die gemeinde-
ordnung gerade alle die verfassungsgesetze durchgehends umgestaltet hatte,
wird man sich darüber nicht verwundern, so sehr man es auch be-
dauern muss.

Ich meine, es ist klar geworden, dass Aristoteles es sich mit der
behandlung Solons recht leicht gemacht hat. die person des gesetz-
gebers, wie sie in den gedichten leibhaft ihm entgegentrat, interessirte
ihn, und sie stellte er mittelst dieser unverfälschten zeugnisse in ein
helles und reines licht. aber das antiquarische detail einer verschollenen
gesetzgebung war dem philosophen sehr wenig interessant. er hat weder
sich selbst noch seinen lesern ein bild jener verfassung zu entwerfen ver-
sucht, sondern sich begnügt eine sehr kurze und ungleichförmig gear-
beitete skizze fast ausschliesslich auf grund der darstellungen zu liefern,
die er bei den atthidographen fand. dagegen hat er sein auge scharf
auf das ziel gerichtet, die ausgebildete demokratie, die er nachher dar-
stellen will: die hat Solon begründet, schon allein durch aufhebung der
schuldknechtschaft; die weiteren demokratischen grundrechte erörtert
cap. 9. von denen sogleich.

Jetzt sei vorab noch der eingang der schrift erörtert, über den,Die vorsolo-
nische zeit.

abgesehen von der gesetzgebung Drakons (4, 2--5), aber einschliesslich

Die verfassung. die vorsolonische zeit.
ihm persönlich nichts weiter als der allerdings meisterhafte sarkasmus
mit dem er anmerkt, daſs noch jetzt niemand sich als thete bei der
meldung zu einem amte bekennt, weil die classen gesetzlich nie abge-
schafft sind, und daſs noch jetzt, wenn auch praktisch ganz unwirksam,
der solonische höchste census von den schatzmeistern gefordert wird.
nur der sarkasmus gehört ihm, die stilistische form, schwerlich die
beobachtung der tatsachen, wenigstens der zweiten. denn hier steht sie
in einem der beweise, die für die solonischen institutionen beigebracht
werden, ist also nach der analogie der übrigen zu beurteilen, und
wenn er in dem darstellenden teile darauf zurückkommt (47,1), so ist
das verdächtig. da es die einzige stelle dort ist, die zwischen gesetz und
praxis einen widerspruch notirt, so liegt am nächsten, daſs er dort ver-
wertet, was er gelegentlich aus einer darstellung der solonischen ver-
fassung gelernt hat, die hier wie sonst häufig durch rückschlüsse ein bild
der alten institutionen gewann. daſs dies der weg war, den man schon zwei
menschenalter vor Aristoteles gehn muſste, ist wichtig zu wissen: es gab
also weder eine geschichtliche aufzeichnung verlässlicher art noch gerade
diese solonischen gesetze mehr, so viel ἄξονες und κύϱβεις auch erhalten
waren, während doch blutrecht und privatrecht und viele einzelne
satzungen aufgezeichnet waren. wenn man bedenkt, daſs die gemeinde-
ordnung gerade alle die verfassungsgesetze durchgehends umgestaltet hatte,
wird man sich darüber nicht verwundern, so sehr man es auch be-
dauern muſs.

Ich meine, es ist klar geworden, daſs Aristoteles es sich mit der
behandlung Solons recht leicht gemacht hat. die person des gesetz-
gebers, wie sie in den gedichten leibhaft ihm entgegentrat, interessirte
ihn, und sie stellte er mittelst dieser unverfälschten zeugnisse in ein
helles und reines licht. aber das antiquarische detail einer verschollenen
gesetzgebung war dem philosophen sehr wenig interessant. er hat weder
sich selbst noch seinen lesern ein bild jener verfassung zu entwerfen ver-
sucht, sondern sich begnügt eine sehr kurze und ungleichförmig gear-
beitete skizze fast ausschliesslich auf grund der darstellungen zu liefern,
die er bei den atthidographen fand. dagegen hat er sein auge scharf
auf das ziel gerichtet, die ausgebildete demokratie, die er nachher dar-
stellen will: die hat Solon begründet, schon allein durch aufhebung der
schuldknechtschaft; die weiteren demokratischen grundrechte erörtert
cap. 9. von denen sogleich.

Jetzt sei vorab noch der eingang der schrift erörtert, über den,Die vorsolo-
nische zeit.

abgesehen von der gesetzgebung Drakons (4, 2—5), aber einschlieſslich

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[55/0069] Die verfassung. die vorsolonische zeit. ihm persönlich nichts weiter als der allerdings meisterhafte sarkasmus mit dem er anmerkt, daſs noch jetzt niemand sich als thete bei der meldung zu einem amte bekennt, weil die classen gesetzlich nie abge- schafft sind, und daſs noch jetzt, wenn auch praktisch ganz unwirksam, der solonische höchste census von den schatzmeistern gefordert wird. nur der sarkasmus gehört ihm, die stilistische form, schwerlich die beobachtung der tatsachen, wenigstens der zweiten. denn hier steht sie in einem der beweise, die für die solonischen institutionen beigebracht werden, ist also nach der analogie der übrigen zu beurteilen, und wenn er in dem darstellenden teile darauf zurückkommt (47,1), so ist das verdächtig. da es die einzige stelle dort ist, die zwischen gesetz und praxis einen widerspruch notirt, so liegt am nächsten, daſs er dort ver- wertet, was er gelegentlich aus einer darstellung der solonischen ver- fassung gelernt hat, die hier wie sonst häufig durch rückschlüsse ein bild der alten institutionen gewann. daſs dies der weg war, den man schon zwei menschenalter vor Aristoteles gehn muſste, ist wichtig zu wissen: es gab also weder eine geschichtliche aufzeichnung verlässlicher art noch gerade diese solonischen gesetze mehr, so viel ἄξονες und κύϱβεις auch erhalten waren, während doch blutrecht und privatrecht und viele einzelne satzungen aufgezeichnet waren. wenn man bedenkt, daſs die gemeinde- ordnung gerade alle die verfassungsgesetze durchgehends umgestaltet hatte, wird man sich darüber nicht verwundern, so sehr man es auch be- dauern muſs. Ich meine, es ist klar geworden, daſs Aristoteles es sich mit der behandlung Solons recht leicht gemacht hat. die person des gesetz- gebers, wie sie in den gedichten leibhaft ihm entgegentrat, interessirte ihn, und sie stellte er mittelst dieser unverfälschten zeugnisse in ein helles und reines licht. aber das antiquarische detail einer verschollenen gesetzgebung war dem philosophen sehr wenig interessant. er hat weder sich selbst noch seinen lesern ein bild jener verfassung zu entwerfen ver- sucht, sondern sich begnügt eine sehr kurze und ungleichförmig gear- beitete skizze fast ausschliesslich auf grund der darstellungen zu liefern, die er bei den atthidographen fand. dagegen hat er sein auge scharf auf das ziel gerichtet, die ausgebildete demokratie, die er nachher dar- stellen will: die hat Solon begründet, schon allein durch aufhebung der schuldknechtschaft; die weiteren demokratischen grundrechte erörtert cap. 9. von denen sogleich. Jetzt sei vorab noch der eingang der schrift erörtert, über den, abgesehen von der gesetzgebung Drakons (4, 2—5), aber einschlieſslich Die vorsolo- nische zeit.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/69>, abgerufen am 29.03.2024.