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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Die münzreform.
advocaten belastet) verstand die sache: aber er hat die seisachthie aller-
dings misverstanden, die nach Aristoteles und allen andern zeugen, vor-
nehmlich aber nach ihren folgen, nur eine revolutionäre schuldentilgung
gewesen sein kann. aber auch Androtion redet von einer epauxesis
metron, ganz ebenso wie es Aristoteles tut; von den stathma sagt es
nur dieser, aber die hat Plutarch überhaupt übergangen. nach Aristoteles
besteht die vermehrung des gewichtes darin, dass das talent 63 minen
wiegen soll. es ist schlechthin unfassbar, wie man dafür 60 minen durch
conjectur setzen will: dann ist ja gar nichts geändert, geschweige ver-
mehrt, sagt vielmehr Aristoteles nur in dem falle etwas, wenn er an-
nahm, dass vor Solon das talent weniger als 60 minen hatte. diese torheit
brauchen wir ihm nicht aufzubürden, obwol es schwerlich besser ist,
was man nicht wegdeuten kann, dass die solonische reform des masses
in einer vergrösserung gegenüber dem des Pheidon gelegen hätte, von
dem Aristoteles in den verfassungen von Argos und Sikyon gehandelt
hatte.4) nach allem was bisher bekannt war und nach der analogie von
längenmass hohlmass und gewicht sind vielmehr diese alle im Pelo-
ponnes grösser als die solonischen gewesen, und Aristoteles verdient
hier wahrlich nicht den glauben, den Hultsch sogar ihm beimisst, dass
wir nun ein nirgend vorhandenes oder bezeugtes mass dem Pheidon zu-
schreiben müssten. hat doch die genau entsprechende, nur der vergleichung
mit Pheidon entbehrende angabe des Androtion keinen glauben gefunden.
wol aber haben wir den volksbeschluss (das gesetz) über mass und ge-
wicht CIA II 476, und in dem wird sowol für gewisse früchte ein
grösseres hohlmass wie auch für den handel ein zuschlag zum gewicht, eine
Rope, vorgeschrieben. dieser zuschlag konnte also sehr wol als etwas
volksfreundliches gelten: der Athener bekam wirklich mehr als eine metze
feigen oder ein pfund salz. es ist freilich peinlich, dass das handels-
gewicht sehr viel mehr das münzgewicht übertrifft als das verhältnis
63:60 ergibt, und man wird nicht leicht daran glauben, dass etwa eine
weitere erhöhung nach Aristoteles eingetreten wäre, da Boeckh vielmehr
erkannt hat, dass das handelsgewicht das alte aiginetische blieb. anderer-
seits ist die autorität des Aristoteles hier so schwach und die der über-
lieferten zahlzeichen in der handschrift so gering5), dass man sich besser
hütet, auf solcher grundlage hypothesen aufzubauen. an der identification

4) Pollux IX 77. das eine mal hatte er obolos von den bratspiessen, das andere
mal von ophellein und opheilein abgeleitet.
5) Die lesung selber ist zwar schwierig, aber sie ergibt nichts anderes, als
schon im wesentlichen Kenyon gelesen hatte.

Die münzreform.
advocaten belastet) verstand die sache: aber er hat die seisachthie aller-
dings misverstanden, die nach Aristoteles und allen andern zeugen, vor-
nehmlich aber nach ihren folgen, nur eine revolutionäre schuldentilgung
gewesen sein kann. aber auch Androtion redet von einer ἐπαύξησις
μέτϱων, ganz ebenso wie es Aristoteles tut; von den σταϑμά sagt es
nur dieser, aber die hat Plutarch überhaupt übergangen. nach Aristoteles
besteht die vermehrung des gewichtes darin, daſs das talent 63 minen
wiegen soll. es ist schlechthin unfaſsbar, wie man dafür 60 minen durch
conjectur setzen will: dann ist ja gar nichts geändert, geschweige ver-
mehrt, sagt vielmehr Aristoteles nur in dem falle etwas, wenn er an-
nahm, daſs vor Solon das talent weniger als 60 minen hatte. diese torheit
brauchen wir ihm nicht aufzubürden, obwol es schwerlich besser ist,
was man nicht wegdeuten kann, daſs die solonische reform des maſses
in einer vergröſserung gegenüber dem des Pheidon gelegen hätte, von
dem Aristoteles in den verfassungen von Argos und Sikyon gehandelt
hatte.4) nach allem was bisher bekannt war und nach der analogie von
längenmaſs hohlmaſs und gewicht sind vielmehr diese alle im Pelo-
ponnes gröſser als die solonischen gewesen, und Aristoteles verdient
hier wahrlich nicht den glauben, den Hultsch sogar ihm beimiſst, daſs
wir nun ein nirgend vorhandenes oder bezeugtes maſs dem Pheidon zu-
schreiben müſsten. hat doch die genau entsprechende, nur der vergleichung
mit Pheidon entbehrende angabe des Androtion keinen glauben gefunden.
wol aber haben wir den volksbeschluſs (das gesetz) über maſs und ge-
wicht CIA II 476, und in dem wird sowol für gewisse früchte ein
gröſseres hohlmaſs wie auch für den handel ein zuschlag zum gewicht, eine
ῥοπή, vorgeschrieben. dieser zuschlag konnte also sehr wol als etwas
volksfreundliches gelten: der Athener bekam wirklich mehr als eine metze
feigen oder ein pfund salz. es ist freilich peinlich, daſs das handels-
gewicht sehr viel mehr das münzgewicht übertrifft als das verhältnis
63:60 ergibt, und man wird nicht leicht daran glauben, daſs etwa eine
weitere erhöhung nach Aristoteles eingetreten wäre, da Boeckh vielmehr
erkannt hat, daſs das handelsgewicht das alte aiginetische blieb. anderer-
seits ist die autorität des Aristoteles hier so schwach und die der über-
lieferten zahlzeichen in der handschrift so gering5), daſs man sich besser
hütet, auf solcher grundlage hypothesen aufzubauen. an der identification

4) Pollux IX 77. das eine mal hatte er ὀβολός von den bratspieſsen, das andere
mal von ὀφέλλειν und ὀφείλειν abgeleitet.
5) Die lesung selber ist zwar schwierig, aber sie ergibt nichts anderes, als
schon im wesentlichen Kenyon gelesen hatte.
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[43/0057] Die münzreform. advocaten belastet) verstand die sache: aber er hat die seisachthie aller- dings misverstanden, die nach Aristoteles und allen andern zeugen, vor- nehmlich aber nach ihren folgen, nur eine revolutionäre schuldentilgung gewesen sein kann. aber auch Androtion redet von einer ἐπαύξησις μέτϱων, ganz ebenso wie es Aristoteles tut; von den σταϑμά sagt es nur dieser, aber die hat Plutarch überhaupt übergangen. nach Aristoteles besteht die vermehrung des gewichtes darin, daſs das talent 63 minen wiegen soll. es ist schlechthin unfaſsbar, wie man dafür 60 minen durch conjectur setzen will: dann ist ja gar nichts geändert, geschweige ver- mehrt, sagt vielmehr Aristoteles nur in dem falle etwas, wenn er an- nahm, daſs vor Solon das talent weniger als 60 minen hatte. diese torheit brauchen wir ihm nicht aufzubürden, obwol es schwerlich besser ist, was man nicht wegdeuten kann, daſs die solonische reform des maſses in einer vergröſserung gegenüber dem des Pheidon gelegen hätte, von dem Aristoteles in den verfassungen von Argos und Sikyon gehandelt hatte. 4) nach allem was bisher bekannt war und nach der analogie von längenmaſs hohlmaſs und gewicht sind vielmehr diese alle im Pelo- ponnes gröſser als die solonischen gewesen, und Aristoteles verdient hier wahrlich nicht den glauben, den Hultsch sogar ihm beimiſst, daſs wir nun ein nirgend vorhandenes oder bezeugtes maſs dem Pheidon zu- schreiben müſsten. hat doch die genau entsprechende, nur der vergleichung mit Pheidon entbehrende angabe des Androtion keinen glauben gefunden. wol aber haben wir den volksbeschluſs (das gesetz) über maſs und ge- wicht CIA II 476, und in dem wird sowol für gewisse früchte ein gröſseres hohlmaſs wie auch für den handel ein zuschlag zum gewicht, eine ῥοπή, vorgeschrieben. dieser zuschlag konnte also sehr wol als etwas volksfreundliches gelten: der Athener bekam wirklich mehr als eine metze feigen oder ein pfund salz. es ist freilich peinlich, daſs das handels- gewicht sehr viel mehr das münzgewicht übertrifft als das verhältnis 63:60 ergibt, und man wird nicht leicht daran glauben, daſs etwa eine weitere erhöhung nach Aristoteles eingetreten wäre, da Boeckh vielmehr erkannt hat, daſs das handelsgewicht das alte aiginetische blieb. anderer- seits ist die autorität des Aristoteles hier so schwach und die der über- lieferten zahlzeichen in der handschrift so gering 5), daſs man sich besser hütet, auf solcher grundlage hypothesen aufzubauen. an der identification 4) Pollux IX 77. das eine mal hatte er ὀβολός von den bratspieſsen, das andere mal von ὀφέλλειν und ὀφείλειν abgeleitet. 5) Die lesung selber ist zwar schwierig, aber sie ergibt nichts anderes, als schon im wesentlichen Kenyon gelesen hatte.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/57>, abgerufen am 25.04.2024.