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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 3. Solon.
richterstatter, Plutarch Diodor Diogenes, auf peripatetische quellen zurück-
gehn, keinesweges ausschreiber der Politie, aber schüler der aristoteli-
schen methode, die reichlicher, als in seiner kurzen skizze geschehen war,
das ächte material aus dem schachte gruben, den er gewiesen hatte;
nur wenig kennen wir dagegen die novellistisch oder tendenziös entstellte
tradition, die z. b. Ephoros gegeben haben mag.

Solons
gedichte.
Aus den gedichten hat Aristoteles eigner angabe nach das programm
entnommen, auf grund dessen Solon zum 'versöhner' und zum archon
gewählt ward (cap. 5).2) ein anderes gedicht lieferte ihm, wie schon
dem Herodotos, die motive für Solons abreise (11); und die verzweifelte
stimmung, die ihn beherrschte, als er sehen musste, dass sein versöhnungs-
werk gescheitert war, belegen die reichlichen auszüge aus einer anzahl
von gedichten, die um dieselbe zeit verfasst sein müssen (12). ich muss
eingestehn, dass diese lange reihe von citaten mich abgehalten hatte,
das Berliner bruchstück für unmittelbar aristotelisch zu halten. der
fehlschluss kam daher, dass die absicht des Aristoteles damals noch nicht
kenntlich war. er zieht die gedichte nicht aus um eine erzählung zu
ersetzen, sondern sie sind ihm beweisstücke, zunächst für den adel von
Solons gesinnung, dann aber auch, obwol das der leser sich selbst sagen
soll, dafür, dass Solons werk in der herstellung einer dauerhaften ver-
fassung nicht bestanden hat; im gegenteil, kaum eine pause in den
parteikämpfen hat er herbeigeführt und ist selbst eben durch die un-
eigennützigkeit seiner amtsführung zu einem politisch toten manne ge-
worden. die heilung der wirtschaftlichen misstände und die herstellung
von frieden und ordnung ist erst das werk des Peisistratos. das wird
durch die unmittelbar auf jene gedichtstellen folgenden chroniknotizen
über die anarchie und Damasias ganz deutlich; den bericht über weitere
revolutionen und kriege ersetzt eine allgemeine schilderung der verwirrung
und parteiung, von der sich dann die tyrannis des Peisistratos glänzend
abhebt; diesem gegenüber gesteht Solon seine persönliche ohnmacht aus-
drücklich ein (13). schriftstellerisch ist das ganz vortrefflich aufgebaut.

Das aus den gedichten gewonnene bild von Solons macht und noch
mehr von seinem charakter wird ferner benutzt, um zwischen den ver-
schiedenen berichten über die ausnutzung der seisachthie durch eigen-
nützige freunde Solons zu entscheiden (6, 2--4), eine geschichte, deren
wert nur in dem lichte besteht, das sie auf seinen charakter fallen lässt.

Disposition
des
berichtes.
Anfang und schluss des abschnittes über Solon geht somit auf die

2) Vgl. die beilage 'Solons gedichte.'

I. 3. Solon.
richterstatter, Plutarch Diodor Diogenes, auf peripatetische quellen zurück-
gehn, keinesweges ausschreiber der Politie, aber schüler der aristoteli-
schen methode, die reichlicher, als in seiner kurzen skizze geschehen war,
das ächte material aus dem schachte gruben, den er gewiesen hatte;
nur wenig kennen wir dagegen die novellistisch oder tendenziös entstellte
tradition, die z. b. Ephoros gegeben haben mag.

Solons
gedichte.
Aus den gedichten hat Aristoteles eigner angabe nach das programm
entnommen, auf grund dessen Solon zum ‘versöhner’ und zum archon
gewählt ward (cap. 5).2) ein anderes gedicht lieferte ihm, wie schon
dem Herodotos, die motive für Solons abreise (11); und die verzweifelte
stimmung, die ihn beherrschte, als er sehen muſste, daſs sein versöhnungs-
werk gescheitert war, belegen die reichlichen auszüge aus einer anzahl
von gedichten, die um dieselbe zeit verfaſst sein müssen (12). ich muſs
eingestehn, daſs diese lange reihe von citaten mich abgehalten hatte,
das Berliner bruchstück für unmittelbar aristotelisch zu halten. der
fehlschluſs kam daher, daſs die absicht des Aristoteles damals noch nicht
kenntlich war. er zieht die gedichte nicht aus um eine erzählung zu
ersetzen, sondern sie sind ihm beweisstücke, zunächst für den adel von
Solons gesinnung, dann aber auch, obwol das der leser sich selbst sagen
soll, dafür, daſs Solons werk in der herstellung einer dauerhaften ver-
fassung nicht bestanden hat; im gegenteil, kaum eine pause in den
parteikämpfen hat er herbeigeführt und ist selbst eben durch die un-
eigennützigkeit seiner amtsführung zu einem politisch toten manne ge-
worden. die heilung der wirtschaftlichen misstände und die herstellung
von frieden und ordnung ist erst das werk des Peisistratos. das wird
durch die unmittelbar auf jene gedichtstellen folgenden chroniknotizen
über die anarchie und Damasias ganz deutlich; den bericht über weitere
revolutionen und kriege ersetzt eine allgemeine schilderung der verwirrung
und parteiung, von der sich dann die tyrannis des Peisistratos glänzend
abhebt; diesem gegenüber gesteht Solon seine persönliche ohnmacht aus-
drücklich ein (13). schriftstellerisch ist das ganz vortrefflich aufgebaut.

Das aus den gedichten gewonnene bild von Solons macht und noch
mehr von seinem charakter wird ferner benutzt, um zwischen den ver-
schiedenen berichten über die ausnutzung der seisachthie durch eigen-
nützige freunde Solons zu entscheiden (6, 2—4), eine geschichte, deren
wert nur in dem lichte besteht, das sie auf seinen charakter fallen läſst.

Disposition
des
berichtes.
Anfang und schluſs des abschnittes über Solon geht somit auf die

2) Vgl. die beilage ‘Solons gedichte.’
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[40/0054] I. 3. Solon. richterstatter, Plutarch Diodor Diogenes, auf peripatetische quellen zurück- gehn, keinesweges ausschreiber der Politie, aber schüler der aristoteli- schen methode, die reichlicher, als in seiner kurzen skizze geschehen war, das ächte material aus dem schachte gruben, den er gewiesen hatte; nur wenig kennen wir dagegen die novellistisch oder tendenziös entstellte tradition, die z. b. Ephoros gegeben haben mag. Aus den gedichten hat Aristoteles eigner angabe nach das programm entnommen, auf grund dessen Solon zum ‘versöhner’ und zum archon gewählt ward (cap. 5). 2) ein anderes gedicht lieferte ihm, wie schon dem Herodotos, die motive für Solons abreise (11); und die verzweifelte stimmung, die ihn beherrschte, als er sehen muſste, daſs sein versöhnungs- werk gescheitert war, belegen die reichlichen auszüge aus einer anzahl von gedichten, die um dieselbe zeit verfaſst sein müssen (12). ich muſs eingestehn, daſs diese lange reihe von citaten mich abgehalten hatte, das Berliner bruchstück für unmittelbar aristotelisch zu halten. der fehlschluſs kam daher, daſs die absicht des Aristoteles damals noch nicht kenntlich war. er zieht die gedichte nicht aus um eine erzählung zu ersetzen, sondern sie sind ihm beweisstücke, zunächst für den adel von Solons gesinnung, dann aber auch, obwol das der leser sich selbst sagen soll, dafür, daſs Solons werk in der herstellung einer dauerhaften ver- fassung nicht bestanden hat; im gegenteil, kaum eine pause in den parteikämpfen hat er herbeigeführt und ist selbst eben durch die un- eigennützigkeit seiner amtsführung zu einem politisch toten manne ge- worden. die heilung der wirtschaftlichen misstände und die herstellung von frieden und ordnung ist erst das werk des Peisistratos. das wird durch die unmittelbar auf jene gedichtstellen folgenden chroniknotizen über die anarchie und Damasias ganz deutlich; den bericht über weitere revolutionen und kriege ersetzt eine allgemeine schilderung der verwirrung und parteiung, von der sich dann die tyrannis des Peisistratos glänzend abhebt; diesem gegenüber gesteht Solon seine persönliche ohnmacht aus- drücklich ein (13). schriftstellerisch ist das ganz vortrefflich aufgebaut. Solons gedichte. Das aus den gedichten gewonnene bild von Solons macht und noch mehr von seinem charakter wird ferner benutzt, um zwischen den ver- schiedenen berichten über die ausnutzung der seisachthie durch eigen- nützige freunde Solons zu entscheiden (6, 2—4), eine geschichte, deren wert nur in dem lichte besteht, das sie auf seinen charakter fallen läſst. Anfang und schluſs des abschnittes über Solon geht somit auf die Disposition des berichtes. 2) Vgl. die beilage ‘Solons gedichte.’

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/54>, abgerufen am 19.04.2024.