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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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3.
SOLON.

Wie alle seine zeitgenossen war der stifter der athenischen demo-
kratie der sage anheimgefallen, oder der novelle, wie man das nennen
will. der weiseste der Sieben lebte eben so wie Thales Bias Pittakos in
schönen geschichten fort, die zum teil auch seine politische wirksamkeit
zur voraussetzung hatten, zum teil auch exemplificatorische geschichten
waren, herausgesponnen aus seinen gedichten1) und sprüchen. in der
heimat selbst war er ausserdem der begründer der demokratie geworden,
unter der man die jeweilig bestehende verstand, und von dieser übertrug
sich auf ihn liebe und hass. zu Aristoteles zeit wetteiferten die redner
aller parteien, den nomothetes zu preisen, der immer weise und immer
volksfreundlich ein jedes gesetz gegeben hatte, dessen moderner ursprung
nicht allzu offenkundig war. trotzdem die elegieen Solons in der schule
gelesen wurden, hatte das publicum keine vorstellung von dem was er wirk-
lich gewesen war.

Dem gegenüber lag es vielleicht nicht sehr fern, war aber doch
nicht nur verständig, sondern ein zeichen des sichersten historischen
taktes, wenn Aristoteles die gedichte hernahm und in ihnen ein kriterium
für die überlieferung und namentlich für die beurteilung des menschen
und des staatsmannes Solon fand. er hat dies bild in den hauptzügen so
festgestellt, wie wir es kennen; dies aus dem grunde, dass unsere be-

1) So ist gerasko d' aiei polla didaskomenos erst zu einem apophthegma
gemacht; Solon auf dem totenbette erhebt das haupt, zu hören was die um-
stehenden sagen 'ut, cum istud quidquid est de quo disputatis percepero, moriar',
Valer. Max. VIII 7 ext. 14: der vers wird im eingange selbst übersetzt. hübscher
und so, dass die entlehnung nicht zu deutlich ist, macht sich das, wenn er ein lied
der Sappho hört und lernen will: ina mathon auto apothano Aelian. fgm. 187. das
dritte stadium, nicht bloss das zu glauben, sondern riechen zu können, welches ge-
dicht Sapphos das war, gehört der modernen philologie an.
3.
SOLON.

Wie alle seine zeitgenossen war der stifter der athenischen demo-
kratie der sage anheimgefallen, oder der novelle, wie man das nennen
will. der weiseste der Sieben lebte eben so wie Thales Bias Pittakos in
schönen geschichten fort, die zum teil auch seine politische wirksamkeit
zur voraussetzung hatten, zum teil auch exemplificatorische geschichten
waren, herausgesponnen aus seinen gedichten1) und sprüchen. in der
heimat selbst war er auſserdem der begründer der demokratie geworden,
unter der man die jeweilig bestehende verstand, und von dieser übertrug
sich auf ihn liebe und haſs. zu Aristoteles zeit wetteiferten die redner
aller parteien, den νομοϑέτης zu preisen, der immer weise und immer
volksfreundlich ein jedes gesetz gegeben hatte, dessen moderner ursprung
nicht allzu offenkundig war. trotzdem die elegieen Solons in der schule
gelesen wurden, hatte das publicum keine vorstellung von dem was er wirk-
lich gewesen war.

Dem gegenüber lag es vielleicht nicht sehr fern, war aber doch
nicht nur verständig, sondern ein zeichen des sichersten historischen
taktes, wenn Aristoteles die gedichte hernahm und in ihnen ein kriterium
für die überlieferung und namentlich für die beurteilung des menschen
und des staatsmannes Solon fand. er hat dies bild in den hauptzügen so
festgestellt, wie wir es kennen; dies aus dem grunde, daſs unsere be-

1) So ist γηϱάσκω δ᾽ αἰεὶ πολλὰ διδασκόμενος erst zu einem apophthegma
gemacht; Solon auf dem totenbette erhebt das haupt, zu hören was die um-
stehenden sagen ‘ut, cum istud quidquid est de quo disputatis percepero, moriar’,
Valer. Max. VIII 7 ext. 14: der vers wird im eingange selbst übersetzt. hübscher
und so, daſs die entlehnung nicht zu deutlich ist, macht sich das, wenn er ein lied
der Sappho hört und lernen will: ἵνα μαϑὼν αὐτὸ ἀποϑάνω Aelian. fgm. 187. das
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dicht Sapphos das war, gehört der modernen philologie an.
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[[39]/0053] 3. SOLON. Wie alle seine zeitgenossen war der stifter der athenischen demo- kratie der sage anheimgefallen, oder der novelle, wie man das nennen will. der weiseste der Sieben lebte eben so wie Thales Bias Pittakos in schönen geschichten fort, die zum teil auch seine politische wirksamkeit zur voraussetzung hatten, zum teil auch exemplificatorische geschichten waren, herausgesponnen aus seinen gedichten 1) und sprüchen. in der heimat selbst war er auſserdem der begründer der demokratie geworden, unter der man die jeweilig bestehende verstand, und von dieser übertrug sich auf ihn liebe und haſs. zu Aristoteles zeit wetteiferten die redner aller parteien, den νομοϑέτης zu preisen, der immer weise und immer volksfreundlich ein jedes gesetz gegeben hatte, dessen moderner ursprung nicht allzu offenkundig war. trotzdem die elegieen Solons in der schule gelesen wurden, hatte das publicum keine vorstellung von dem was er wirk- lich gewesen war. Dem gegenüber lag es vielleicht nicht sehr fern, war aber doch nicht nur verständig, sondern ein zeichen des sichersten historischen taktes, wenn Aristoteles die gedichte hernahm und in ihnen ein kriterium für die überlieferung und namentlich für die beurteilung des menschen und des staatsmannes Solon fand. er hat dies bild in den hauptzügen so festgestellt, wie wir es kennen; dies aus dem grunde, daſs unsere be- 1) So ist γηϱάσκω δ᾽ αἰεὶ πολλὰ διδασκόμενος erst zu einem apophthegma gemacht; Solon auf dem totenbette erhebt das haupt, zu hören was die um- stehenden sagen ‘ut, cum istud quidquid est de quo disputatis percepero, moriar’, Valer. Max. VIII 7 ext. 14: der vers wird im eingange selbst übersetzt. hübscher und so, daſs die entlehnung nicht zu deutlich ist, macht sich das, wenn er ein lied der Sappho hört und lernen will: ἵνα μαϑὼν αὐτὸ ἀποϑάνω Aelian. fgm. 187. das dritte stadium, nicht bloſs das zu glauben, sondern riechen zu können, welches ge- dicht Sapphos das war, gehört der modernen philologie an.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. [39]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/53>, abgerufen am 19.04.2024.