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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
geschichte zu treiben. wenn wir bloss Herodot und Thukydides haben,
so wollen wir die lieber selber lesen. Kleon war so lange ein rothariger
theaterbösewicht und Demosthenes ein idealmensch; das kann man auch
umdrehen und Perikles von dem standpunkte eines sommerlieutenants
um den feldherrnruhm bringen, Alexander den Grossen einen trunkenen
tyrannen oder eine bestie schimpfen oder in Aischines einen retter
Athens erblicken. mühsam ist das nicht, es lässt sich auch mit einigem
geschicke ganz plausibel darstellen. aber was ist es anders als sophistik?

Warum ist es nicht so auf dem römischen gebiete? weil das
staatsrecht da ist. die institutionen selbst tragen ihre logik in sich,
und diese verbietet die sophistischen spielereien. die livianischen annalen
geben keine geschichte (ausser wo sie Polybios übersetzen), und doch
dürfen wir uns schmeicheln, dass die zeit der adelsherrschaft uns richtiger
bekannt ist als dem Cicero. von der kaiserzeit gibt es seit dem ende
des Tacitus bis ins vierte jahrhundert hinein nur eine jämmerliche über-
lieferung, und doch wissen wir, wie es zu Hadrians und Severus zeit
im römischen reiche aussah, besser als es irgend ein mitlebender dar-
gestellt hat. auch da ist eine überfülle der mittelbaren geschichtlichen
zeugnisse vorhanden, aber das recht, das staatsrecht wie das civilrecht,
liefert die ordnenden gedanken.

Eine rechtswissenschaft fehlt den Athenern und den Hellenen über-
haupt freilich, während die mittelbar geschichtliche überlieferung um so
viel ergiebiger ist als die reden des Demosthenes und Hypereides über
Aristides und Fronto stehn, und die attischen psephismen über den
römischen ehreninschriften. das recht der Hellenen steckt in der philo-
sophie. und da tritt die Politie nun zur rechten zeit ein: die logik des
rechtes muss die ordnenden gedanken schaffen für die stoffmassen der
antiquitäten, und sie muss im staate und seinem leben ein würdigeres
object dem historischen urteile geben als die schuld des Thukydides
oder die unschuld des Demosthenes. die Politie selbst ist dazu freilich
kaum allein im stande; sie krankt selbst nur zu tief an der verwechselung
des staates und der demagogen. aber sie zwingt doch dazu, den staat
der Athener als ein organisches und gewordenes ganzes zu betrachten,
und vor allem, sie weist, richtig aufgefasst, auf die Politik und die Ge-
setze Platons. die beiden fürsten der philosophie haben die demokratie
Athens in ihrer geschichtlichen bedeutung und berechtigung verkannt:
sie sind dazu bestimmt, dem spätgebornen geschlechte, das gerecht
abwägen und würdigen kann und soll, die besten mittel dazu zu ge-
währen, indem sie uns lehren, was der antike staat sein wollte und

I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches.
geschichte zu treiben. wenn wir bloſs Herodot und Thukydides haben,
so wollen wir die lieber selber lesen. Kleon war so lange ein rothariger
theaterbösewicht und Demosthenes ein idealmensch; das kann man auch
umdrehen und Perikles von dem standpunkte eines sommerlieutenants
um den feldherrnruhm bringen, Alexander den Groſsen einen trunkenen
tyrannen oder eine bestie schimpfen oder in Aischines einen retter
Athens erblicken. mühsam ist das nicht, es läſst sich auch mit einigem
geschicke ganz plausibel darstellen. aber was ist es anders als sophistik?

Warum ist es nicht so auf dem römischen gebiete? weil das
staatsrecht da ist. die institutionen selbst tragen ihre logik in sich,
und diese verbietet die sophistischen spielereien. die livianischen annalen
geben keine geschichte (auſser wo sie Polybios übersetzen), und doch
dürfen wir uns schmeicheln, daſs die zeit der adelsherrschaft uns richtiger
bekannt ist als dem Cicero. von der kaiserzeit gibt es seit dem ende
des Tacitus bis ins vierte jahrhundert hinein nur eine jämmerliche über-
lieferung, und doch wissen wir, wie es zu Hadrians und Severus zeit
im römischen reiche aussah, besser als es irgend ein mitlebender dar-
gestellt hat. auch da ist eine überfülle der mittelbaren geschichtlichen
zeugnisse vorhanden, aber das recht, das staatsrecht wie das civilrecht,
liefert die ordnenden gedanken.

Eine rechtswissenschaft fehlt den Athenern und den Hellenen über-
haupt freilich, während die mittelbar geschichtliche überlieferung um so
viel ergiebiger ist als die reden des Demosthenes und Hypereides über
Aristides und Fronto stehn, und die attischen psephismen über den
römischen ehreninschriften. das recht der Hellenen steckt in der philo-
sophie. und da tritt die Politie nun zur rechten zeit ein: die logik des
rechtes muſs die ordnenden gedanken schaffen für die stoffmassen der
antiquitäten, und sie muſs im staate und seinem leben ein würdigeres
object dem historischen urteile geben als die schuld des Thukydides
oder die unschuld des Demosthenes. die Politie selbst ist dazu freilich
kaum allein im stande; sie krankt selbst nur zu tief an der verwechselung
des staates und der demagogen. aber sie zwingt doch dazu, den staat
der Athener als ein organisches und gewordenes ganzes zu betrachten,
und vor allem, sie weist, richtig aufgefaſst, auf die Politik und die Ge-
setze Platons. die beiden fürsten der philosophie haben die demokratie
Athens in ihrer geschichtlichen bedeutung und berechtigung verkannt:
sie sind dazu bestimmt, dem spätgebornen geschlechte, das gerecht
abwägen und würdigen kann und soll, die besten mittel dazu zu ge-
währen, indem sie uns lehren, was der antike staat sein wollte und

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[380/0394] I. 10. Zweck und bedeutung des aristotelischen buches. geschichte zu treiben. wenn wir bloſs Herodot und Thukydides haben, so wollen wir die lieber selber lesen. Kleon war so lange ein rothariger theaterbösewicht und Demosthenes ein idealmensch; das kann man auch umdrehen und Perikles von dem standpunkte eines sommerlieutenants um den feldherrnruhm bringen, Alexander den Groſsen einen trunkenen tyrannen oder eine bestie schimpfen oder in Aischines einen retter Athens erblicken. mühsam ist das nicht, es läſst sich auch mit einigem geschicke ganz plausibel darstellen. aber was ist es anders als sophistik? Warum ist es nicht so auf dem römischen gebiete? weil das staatsrecht da ist. die institutionen selbst tragen ihre logik in sich, und diese verbietet die sophistischen spielereien. die livianischen annalen geben keine geschichte (auſser wo sie Polybios übersetzen), und doch dürfen wir uns schmeicheln, daſs die zeit der adelsherrschaft uns richtiger bekannt ist als dem Cicero. von der kaiserzeit gibt es seit dem ende des Tacitus bis ins vierte jahrhundert hinein nur eine jämmerliche über- lieferung, und doch wissen wir, wie es zu Hadrians und Severus zeit im römischen reiche aussah, besser als es irgend ein mitlebender dar- gestellt hat. auch da ist eine überfülle der mittelbaren geschichtlichen zeugnisse vorhanden, aber das recht, das staatsrecht wie das civilrecht, liefert die ordnenden gedanken. Eine rechtswissenschaft fehlt den Athenern und den Hellenen über- haupt freilich, während die mittelbar geschichtliche überlieferung um so viel ergiebiger ist als die reden des Demosthenes und Hypereides über Aristides und Fronto stehn, und die attischen psephismen über den römischen ehreninschriften. das recht der Hellenen steckt in der philo- sophie. und da tritt die Politie nun zur rechten zeit ein: die logik des rechtes muſs die ordnenden gedanken schaffen für die stoffmassen der antiquitäten, und sie muſs im staate und seinem leben ein würdigeres object dem historischen urteile geben als die schuld des Thukydides oder die unschuld des Demosthenes. die Politie selbst ist dazu freilich kaum allein im stande; sie krankt selbst nur zu tief an der verwechselung des staates und der demagogen. aber sie zwingt doch dazu, den staat der Athener als ein organisches und gewordenes ganzes zu betrachten, und vor allem, sie weist, richtig aufgefaſst, auf die Politik und die Ge- setze Platons. die beiden fürsten der philosophie haben die demokratie Athens in ihrer geschichtlichen bedeutung und berechtigung verkannt: sie sind dazu bestimmt, dem spätgebornen geschlechte, das gerecht abwägen und würdigen kann und soll, die besten mittel dazu zu ge- währen, indem sie uns lehren, was der antike staat sein wollte und

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/394>, abgerufen am 25.04.2024.